Überzäumt ist das neue Normal: Mehr als zwei Drittel der Dressurpferde werden heute auf den Abreiteplätzen deutlich hinter der Senkrechten geritten, sagt eine Studie deutscher Forscherinnen. © Pixinoo - fotolia.com
Die Stirn-Nasenlinie leicht vor der Senkrechten, das losgelassene Genick als höchster Punkt, der Kopf stabil in der vom Reiter vorgegebenen Position ohne sichtliches Abwehrverhalten gegen die Hilfen: So sollte laut gültigem FEI-Reglement ein Dressurpferd während der Prüfung vorgestellt werden. Dass es die Richter mit dem Regelwerk manchmal nicht so genau nehmen, ist nichts Neues. Dass allerdings gerade in höheren Klassen diese Grundregel der Dressur weit weniger wichtig zu sein scheint, als in niedrigen, ist das beunruhigende Ergebnis einer Studie, die jüngst vom deutschen Forscherinnen-Trio Kathrin Kienapfel, Yvonne Link and Uta König v. Borstel in der internationalen Online-Fachzeitschrift PLOS one veröffentlicht wurde.
Insgesamt wurden 171 Pferde in Dressurprüfungen unterschiedlichen Niveaus hinsichtlich ihrer Kopf-Hals-Haltung und widersetzlichen Verhaltens gegen die Reiterhilfen bewertet. Dabei zeigte sich, dass vor allem jene Pferde, die von ihren Reitern mit der Stirn-Nasen-Linie deutlich hinter der Senkrechten vorgestellt wurden, weit mehr Anzeichen von Unzufriedenheit wie Schweifschlagen, starr nach hinten gerichtete Ohren und Taktverschiebungen zeigten, als solche, die in korrektem Rahmen geritten wurden. Doch während sich ein zu enger Rahmen und das damit einhergehende Abwehrverhalten beim Pferd in den Klassen A und L in Punkteabzügen bei der Bewertung niederschlug, sahen die Richter in den Klassen M bis S weit generöser darüber hinweg. Es scheint, als würde eine korrekte Kopf-Hals-Position mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad an Bedeutung verlieren. Wenn man bedenkt, dass besonders Reiter auf höherem Niveau eine wichtige Vorbildfunktion innehaben, ist diese Entwicklung höchst alarmierend. Zudem sei nur schwer zu rechtfertigen, warum allgemein gültiges Regelwerk bei Reitern höherer und niedriger Klassen unterschiedlich ausgelegt würde, so die Forscherinnen.
Überzäumt ist im Training das neue Normal
Auch das vorbereitende Training auf den Abreiteplätzen wurde in die Studie miteinbezogen. Hier bestätigte sich, was viele längst befürchtet haben: Die im klassischen Sinne korrekte Kopf-Hals-Position ist ein Auslaufmodell. Von 355 jeweils über 15 Minuten beobachteten Pferden wurden 69 % deutlich hinter der Senkrechten geritten, 19 % hatten die Nase in der Senkrechten oder nur leicht dahinter. Nur 12 Prozent wurden während des Abreitens in korrektem Rahmen, also mit der Nase leicht vor der Senkrechten gearbeitet.
Dass die Reiter im Allgemeinen aber sehr wohl wissen, wie ein korrekt gerittenes Pferd auszusehen hat, zeigt die Bewerbsstatistik: Hier hatten plötzlich über 50 % der Pferde die Nase dort, wo sie hingehört. Auf A bis L-Niveau waren es nur noch 23,3 %, die mit einem deutlich überzäumten Pferd ins Viereck einritten. Die Forscherinnen schließen daraus, dass es sich hierbei vor allem um eher unerfahrenere Reiter handelt, die, anders als ihre fortgeschritteneren Kollegen, noch nicht in der Lage sind, ihre Pferde im entscheidenden Moment in „Bewerbshaltung“ zu bringen. Diese Fähigkeit scheint die zunehmende Erfahrung mit sich zu bringen, denn auf M und S-Niveau wurden nur noch 6,7 % der Pferde mit einer Kopf-Hals-Haltung deutlich hinter der Senkrechten registriert.