Betulinsäure steht seit einigen Jahren im Fokus der Krebsforschung. Laborversuche haben gezeigt, dass der sekundäre Pflanzenstoff aktiv gegen Krebszellen wirkt, indem er direkt die Mitochondrien, die sogenannten Kraftwerke der Zelle, angreift. Einmal in die Tumorzelle eingeschleust, löst Betulinsäure gezielt den Zelltod, die sogenannte Apoptose, aus. Der Vorteil des aus der Rinde von Birken und Platanen hergestellten Wirkstoffes: Im Gegensatz zu herkömmlichen Krebstherapien wie Bestrahlung und Chemotherapie greift Betulinsäure lediglich die Krebszellen an. Gesunden Körperzellen werden keine Schädigungen zugefügt.
Die Entscheidung, den Pflanzenwirkstoff am Pferd zu testen, kam, als eine Schimmelbesitzerin den deutschen Wissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Paschke von der Martin-Luther-Universität in Halle kontaktierte, nachdem sie eine seiner früheren Studien zur Melanom-Behandlung bei Hunden unter Zuhilfenahme von Betulinsäure gelesen hatte.
In einem ersten Schritt untersuchten Paschke und seine Kollegen die Auswirkungen auf zwei unterschiedliche Zellarten des Equinen Melanoms unter Laborbedingungen. Getestet wurde mit Betulinsäure sowie zwei künstlich hergestellten Derivaten. Alle drei Produkte führten bei beiden Arten zu einem Absterben der Krebszellen – meist innerhalb einer Zeitspanne von 24 bis 48 Stunden.
Als Spitzenreiter bei der Zellvernichtung erwies sich das Derivat NVX-207, was es zum idealen Testprodukt für den nächsten Schritt machte: die Verträglichkeitsstudie. Sie sollte zeigen, ob eine Behandlung mit dem Betulinsäure-Derivat nicht nur wirksam, sondern auch sicher für den Patienten ist. Dazu wurde NVX-207 zwei Schimmelstuten im Alter von 13 bzw. 18 Jahren verabreicht. Über 19 Wochen hinweg injizierten die Wissenschaftler den Wirkstoff einmal pro Woche direkt in die Tumore.
Keine unerwünschten Nebenwirkungen
Wie die regelmäßigen klinischen Beobachtungen und die Analysen der Blutwerte ergaben, vertrugen die Stuten die Behandlung sehr gut. Bei beiden Pferden stellten sich keinerlei unterwünschte Nebenwirkungen ein. Allerdings löste die wöchentliche Injektion in den Tumor großes Unbehagen bei den Stuten aus, wie die Wissenschaftler feststellen mussten. „Die intratumorale Anwendung ist für die Pferde leider mit Stress verbunden“, wird Paschke vom US-amerikanischen Pferdegesundheitsmagazin The Horse zitiert. Besser geeignet sei vermutlich eine Anwendung mittels Creme oder Salbe, beides steht derzeit allerdings nicht zur Verfügung. Zumindest noch nicht.
Trotz des aktuell noch gegebenen Behandlungsstresses stünden die Vorteile der Therapie allerdings schon jetzt ganz klar im Vordergrund. Denn auch wenn das Schimmelmelanom in der Regel langsam wächst und über längere Zeiträume unverändert bleibt, können die gutartigen Geschwulste im Laufe der Zeit bösartig werden. Meist sind es mechanische Reize oder Stresssituationen, die einen bislang stabilen Tumor plötzlich aktivieren. Kommt es zur Metastasenbildung lösen sich die Krebszellen vom ursprünglichen Tumor ab und breiten sich in anderen Körperteilen aus. Die verstreuten Tumorzellen siedeln sich dann vornehmlich entlang der Lymphbahnen an und befallen das Bauch- und Brustfell, Lymphknoten innerer Organe, Leber, Lunge und Milz, wo sie Tochtergeschwülste (Metastasen) entstehen lassen. Bösartige Tumore verringern die Lebenserwartung der betroffenen Pferde drastisch, selbst bei einer erfolgreichen Entnahme des Tumors und der benachbarten Lymphknoten wird die Überlebensrate mit drei bis fünf Jahren angeführt.
Aktuelle Therapien, die insbesondere auf der Chemotherapie mit Cisplatin beruhen, sind in ihrer Erfolgsrate begrenzt. Zudem bergen sie gesundheitliche Risiken für den Pferdebesitzer oder den behandelnden Tierarzt, wenn sie mit dem Medikament hantieren. Die Nebenwirkungen reichen von Übelkeit und Erbrechen über Knochenmarkshemmung bis hin zu Nierenproblemen.
„Die lokale Chemotherapie mit Cisplatin oder eine lokalen Entfernung haben bislang nur bei kleinen Tumoren Erfolge gezeigt“, erklärt Paschke. „Angesichts der weiten Verbreitung von Schimmelmelanomen und der Risiken, die eine Verabreichung von Cisplatin birgt, muss eine neue Behandlungsmethode gefunden werden.“
Ob Betulinsäure den Durchbruch in der Therapie des Equinen Melanoms bedeutet, gilt es noch herauszufinden. In einem nächsten Schritt müsse die Wirksamkeit des Derivats NVX-207 an mehreren mit Hautkrebs belasteten Pferden getestet werden. „Wir sind derzeit um die Beschaffung der nötigen Mittel bemüht, damit wir mit unserem Projekt fortfahren können“, so Paschke, der große Hoffnungen in den Pflanzenstoff setzt: „Wir sind optimistisch, dass dies die neue Heilung für Hautkrebs beim Pferd sein könnte. Aber die Wissenschaft braucht immer auch ein wenig Glück. Also halten wir unsere Daumen gedrückt.“
Die Studie "In vitro anticancer activity of Betulinic acid and derivatives thereof on equine melanoma cell lines from grey horses and in vivo safety assessment of the compound NVX-207 in two horses" wurde in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Chemico-Biological Interactions veröffentlicht.
ps