Wer sein Pferd (augenscheinlich) unter Kontrolle hat, der weiß auch, was er tut. Pferde sind seit jeher Statussymbole und Prestigeobjekte. Über ihr Können, ihr Leistungsvermögen, ihr Erscheinen definiert sich der/die Besitzer:in nur zu gern. „Perfektion“ ist dabei nicht selten das erklärte Ziel. Pferde, die „aus der Reihe tanzen“, werden schnell abgestempelt. Sie gelten als störrisch, ungehorsam oder im schlechtesten Fall sogar als charakterlich verdorben. Wie mit diesen Unangepassten umgegangen wird? Auf ihr widerwilliges Verhalten folgen meist ebenso unnachgiebige Sanktionen. Nur wollen wir doch eigentlich ein nachgiebiges, weiches, sanftes Pferd. Wie soll diese über Härte erreichbar sein?
Wenn körperliche Ursachen für „aufsässiges“ Verhalten bzw. (mehr oder minder) ausgeprägte Arbeitsverweigerung ausgeschlossen werden können und auch die Haltungsbedingungen einwandfrei und pferdegerecht sind, dann heißt es: Trainings- und Ausbildungsmethoden in den Fokus nehmen.
1. Pferde haben Motive für ihr Verhalten
Verweigerung, Ablehnung und Widerstand, aber auch Ignoranz, Desinteresse oder Uneinsichtigkeit sind keine Boshaftigkeiten. Dazu sind Pferde gar nicht fähig. Was ein Pferd zeigt, das hat in seinen Augen auch eine Daseinsberechtigung. Reaktionen basieren auf der angelegten Persönlichkeitsstruktur des Tieres, beziehen die erlernten Problemlösestrategien mit ein und spiegeln die aktuelle Situation wider. Als Opportunisten sind Pferde stets bestrebt, ihren Zustand zu verbessern. Und einige Exemplare sind schlicht weniger kompromissbereit als andere. Sie sind nicht willens, sich lenken zu lassen, schützen sich und ihre Grenzen energisch, um (vermeintlichen) Schaden von sich abzuwenden. Häufig haben sie auch einen ausgeprägten Gegendruckreflex. Diese Pferde beharren oft konsequent auf ihre natürlichen Instinkte. Sie werden nicht müde, ihren Standpunkt zu vertreten – einige äußerst körperlich und energiegeladen, andere weniger aufwendig, aber nicht minder beharrlich. Die Botschaft dahinter ist allerdings dieselbe: „Du siehst mich nicht!“
2. Widerstand hat seinen Ursprung in Verletzbarkeit
Ein widerwilliges oder willensstarkes Pferd schützt sich in erster Linie selbst. Es sieht sich in der Position, Gefahren zu vermeiden, schließt sich nicht einfach vertrauensvoll an und hat den Anspruch, selbst Entscheidungen zu treffen, die für sein eigenes Wohl sorgen (und ggf. das der Gruppe). Diese Tiere haben ein untrügliches Gespür dafür, wozu ihr Gegenüber in der Lage ist. Sie fühlen sehr deutlich, wo sich Schwächen, Ängste und Unsicherheiten verstecken. Und sie machen klar: Wer nicht ausreichend Respekt und Achtung vor der Pferdenatur und der Individualität des jeweiligen Charakters aufbringen kann, der hat ihnen nichts zu sagen. Natürlich ist mit Technik auch bei sehr resoluten Pferden (augenscheinlich) mitunter viel zu erreichen. Eine Partnerschaft ist aber bei dieser Vorgehensweise ausgeschlossen. Verlasspferde werden nicht mit „Hammer und Meißel“ erzeugt, und eine universelle Bedienungsanleitung, die bei allen Pferden zum erwünschten Erfolg führt, gibt es schon gar nicht. Vielmehr geht es gerade bei willensstarken Pferden um Kommunikation, Empathie und Vertrauensaufbau. Ihre Zuneigung will verdient werden.
3. Fehlerverfolgung ist im Kern destruktiv
Weil es viele von uns so gewohnt sind, fokussieren wir vornehmlich das Unerwünschte. Auch das Pferdeverhalten wird in jeder Hinsicht kritisch beäugt. Dabei stehen die gewünschten Anpassungen und die Zielvorgaben oft im Mittelpunkt. Seltener geht es darum, was das Pferd schon gut schafft. Vor allem willensstarke und unkooperative Pferde brauchen aber Zuwendung und Bestätigung, und zwar kleinschrittig. Ihr Lernen sollte primär das Staunen, die Neugierde und das Interesse wecken. Sehr häufig bringen sie ein besonders hohes Potenzial an Eigeninitiative mit. Sie offenbaren diese Bereitschaft zum Input aber nur, wenn sie spüren, dass sie darin bestärkt und gefördert werden. Diese Pferde wollen nicht ständig bewertet und beurteilt werden, sondern gehört, gesehen und verstanden. Wer Raum für „Fehler“ schafft, der schafft auch Raum für eine empathischere Atmosphäre. Auf diese Weise können Pferde eigene Erkenntnisse und Lösungen erfahren. Und genau hier liegt die Chance: Selbstvertrauen, Lernen, Frustrationstoleranz und Bindungsfähigkeit werden gestärkt. Aus einer bloßen oberflächlichen Aufgabenstellung oder Lektion wird plötzlich eine Interaktion. Hierauf kann nach und nach aufgebaut werden – wie beim Gießen einer Pflanze, die auch nicht über Nacht wächst, sondern genährt werden möchte.
4. Der Zeitfaktor hat für Pferde keine Relevanz
Menschen sind längst an Stress gewöhnt: Ein Termin jagt den nächsten, die Uhr ist immer im Blick, die Sorge, auf die eine oder andere Weise nicht auszureichen bzw. sogar zu versagen, ist ein ständiger Begleiter. Genau diese Glaubenssätze werden mit in den Stall genommen und auf Pferde übertragen. Tiere haben aber nicht dasselbe Konzept von Zeit wie Menschen. Entsprechend sind etliche menschliche Vorstellungen und Ideen, was ein Pferd zu welchem Zeitpunkt umgesetzt haben muss, können oder verbessert haben sollte, meistens Zeitverschwendung – zumindest aus Pferdesicht. Auf willensstarke Pferde mit viel Eigensinn übt ein solches straffes Vorgehen zu viel Druck aus, den sie nicht verstehen. Sie spüren den Stress hinter Aktionen, fühlen die Anspannung (selbst dann, wenn der Mensch sie noch nicht bewusst wahrnimmt) und können nicht darauf reagieren. Unangepasste Pferde gehen dann in den Widerstand und bauen ziemlich hohe Mauern, die sie vor den unangenehmen Energien schützen. Druck erzeugt hier mehr Gegendruck – auf welche Weise auch immer. Es hat sich bewährt (zumindest in der Aufbau- und Annäherungsphase), weitestgehend auf Zeitangaben im Training zu verzichten. Besser für alle Beteiligten ist die Devise: Alles geschieht zu seiner Zeit!
5. Wiederholung ist der Schlüssel
Pferde verinnerlichen und reproduzieren Lerninhalte durch Wiederholungen. Je nach Aufgabenschwere und Fähigkeiten bzw. Vorkenntnissen des Tieres werden dazu mehr oder minder viele Anläufe benötigt. Es hat sich gezeigt: Ein stetiges Wachstum an Informationen anstelle stumpfer Abfolgen ist dabei ideal. Dies gilt um so mehr bei scheinbar unwilligen Pferden. Sie sind genauso schnell gelangweilt wie verärgert, wenn sie sich unter- oder überfordert fühlen. Geduld mit ihrem Gegenüber haben sie nur selten, weil sie erwarten, dass Fragen „fach- und sachgerecht“ an sie gestellt werden. Ansonsten ergibt die ganze Aktion für sie keinen Sinn und es lässt sich kein Mehrwert erkennen.. In der Praxis bedeutet dies, dass die Interaktion während einer Aufgabenstellung die wichtigste Rolle einnehmen muss, damit der „Sturkopf“ weiter Interesse am Training hat. Bleibt eine Lektion (ganz gleich, welche) also nicht eindimensional, sondern umfasst auch ausreichend Raum für „schöpferische“ Auslegung, wird aus einheitlicher und mechanischer Wiederholung eine einfallsreiche Kommunikation. Nur auf diese Weise kann während einer Lerneinheit auch die Bindung zueinander gestärkt werden, wobei die Beziehung im Fokus steht und nicht das funktionale Endergebnis.
Wer hingegen seinem Pferd gebetsmühlenartig ein und dieselbe Lektion auf die immer gleiche Weise präsentiert, verfestigt damit den Eigensinn des charakterstarken Pferdes. Dieses braucht die Interaktion, will sich beteiligen und herausgefordert werden, legt Wert auf Mitarbeit. Wird ihnen diese verweigert, dann spiegeln sie eben genau diese Verweigerung. Außerdem ermöglicht ein kleinschrittiges Zugehen aufeinander, gepaart mit klarer und deutlicher Kommunikation, immer wieder viel Lob und Bestätigung. Das finden willensstarke Pferde hochinteressant und spannend. Aufwand und Ertrag sind in ihren Augen in einem Gleichgewicht und lohnenswert.
6. Wertschätzung ist zu jeder Zeit kostenlos
Werden spezifische Persönlichkeitsmerkmale des eigensinnigen Pferdes vom Menschen abgelehnt, dann spüren die Tiere das ganz genau. Sie bemerken, dass ihnen etwas ausgetrieben werden soll. Die meisten Pferde wollen ihrer Natur entsprechend gefallen, sind bemüht, Lösungen zu finden, lernen gerne und zeigen sich in vielen Situationen kooperativ. Ist die Willens- und Entschlusskraft sehr ausgeprägt, werden Training und Umgang von einer eisernen (bis „bockigen“) Dynamik geprägt. Mit E Empathie und Feingefühl vonseiten des Menschen relativiert sich diese aber zusehends. Dahinter steckt nicht selten Unsicherheit. Unzufriedenheit, Kritik und Enttäuschung über ein (nicht erbrachtes) Ergebnis nähren die Entmutigung. Auch in Pferden ist das Gefühl, nicht auszureichen, leicht hervorgerufen. Was für das eine Pferd nur ein kleiner Schritt ist, kann für ein anderes ein sehr großer sein. Entscheidend ist die Anerkennung. Werden minimalste Schritte in die richtige Richtung gelobt und weniger mit Futter, sondern besser mit Ruhe und Raum bestärkt, bauen selbst die Hartgesottensten langsam ihre Mauern ab, weil sie im Grunde auch Anschluss suchen. Hierfür ist Geduld gefragt. Pferden wissen prinzipiell eine ruhige, friedfertige und angenehme Kommunikation sehr zu schätzen. Sogar aufgebrachte, ängstliche, wütende oder traumatisierte Pferde antworten selbst auch einträchtiger bzw. gefasster, weil sie sich der Energie ihres Gegenübers nach und nach angleichen.
7. Sturköpfe werden nicht zum Lernen gebracht, es wird ihnen erlaubt
Permanentes Einwirken ist besonders bei eigensinnigen Pferden kontraproduktiv. Sie benötigen zumindest zu Beginn mehr Raum und Zeit. Beim Training eine genaue Vorstellung im Kopf zu haben und diese umsetzen zu wollen, ist weit verbreitet. Dabei wird aber die Rechnung oft ohne das Pferd gemacht. Wer eine Verbindung sucht, der sollte den Input des Pferdes einbeziehen. Es ist bemerkenswert, was die Tiere zum Training beitragen können, wenn sie sich ernst genommen und wahrgenommen fühlen. Vermehrt trauen sie sich, Angebote zu machen und einen Beitrag zu leisten – das sollte gefördert und anerkannt werden! Im nächsten Schritt werden dann jene Ideen explizit bestärkt, die dem gemeinsamen Vorankommen dienen. Die eigenen Ideen werden also zu den Ideen des Pferdes gemacht. Selbst „Übereifer“ kann auf diese Weise in gesunde Bahnen gelenkt werden. Wichtig beim Dialog sind vor allem Klarheit, Bestimmtheit und eine deutliche Kommunikation vonseiten des Menschen, damit das Pferd eine faire Chance bekommt und eindeutige Rückmeldungen erhält, mit denen es arbeiten kann. Dabei gilt es immer genau hinzuschauen: Pferde sollten stets da abgeholt werden, wo sie stehen (und nicht da, wo wir sie gerne haben möchten).
8. Das Gefühl muss einem Gefühl folgen
Wenn ein Pferd nicht macht, was es soll, bedeutet das nicht immer, dass es nicht verstanden hat – es ist mitunter einfach nicht einverstanden. Das ist ein gravierender Unterschied. Die Ursache liegt oft in der Fragestellung im Zusammenspiel mit dem Ausdruck des Menschen begründet. Für Pferde beginnt alles mit einem Gefühl. Wer also einen Anspruch an ein Pferd stellt, der sollte zuerst ein Gefühl vorausschicken. Das ist die einzige „Sprache“, die Pferde nicht lernen müssen, sondern naturgemäß verstehen. Es handelt sich hierbei um die erste „Druckstufe“, die auf ein Pferd ausgeübt wird. Sie ist auf das absolute Minimum reduziert, aber der Beginn jeder Einwirkung. Willensstarke Pferde wissen einen solchen feinfühligen Umgang sehr zu schätzen – auch wenn er ihnen nur selten zuteil wird. Wir neigen dazu, Sturheit und Unangepasstheit zu sanktionieren und den Bewegungsspielraum einzuengen, um mehr Kontrolle ausüben zu können. Tatsächlich hat dies aber einen gegenteiligen Effekt: das Pferd reagiert auch seinerseits grober und unempfindsamer. Sein „Nein“ wird lauter. So entwickelt nicht selten eine Negativspirale und irgendwann stehen sich zwei „Gegner“ gegenüber, die sich beide weigern, einzulenken, weil sie Nachgiebigkeit mit Schwäche verwechseln.
Willensstarke Pferde brauchen eine harmonische, ausgewogene und „rhythmische“ Ansprache, die es ihnen ermöglicht, sich langsam und in Sicherheit öffnen und präsentieren zu können. Sie fühlen sich schnell unverstanden, möchten aber eigentlich gerne dazugehören. Sie suchen auf ihre Art eine Verbindung und freuen sich zusehends, wenn ihnen diese gewährt wird. Zugegeben: Die Konditionen müssen ausgehandelt werden, aber wenn eine erste gemeinsame Ebene gefunden ist, dann macht das erfahrungsgemäß beiden Seiten viel Freude.
Ein Hoch auf die Unangepassten!
Letztlich sind es die Unangepassten, die das größte Potenzial in sich tragen, und zwar auf allen Ebenen. Sie sind schwieriger, anspruchsvoller und auch insgesamt komplizierter, aber sie bringen viel Dynamik in eine Beziehung, haben häufig sehr hohe Leistungsansprüche an sich und halten die meisten Entwicklungsmöglichkeiten bereit (auf beiden Seiten). Es muss eine Lanze für diese außergewöhnlichen Tiere gebrochen werden, denn wenn sie gesehen und gefördert werden, dann geben sie alles, sind nicht unterzukriegen, kämpfen wie Krieger, zeigen sich überraschend tiefgründig und sind viel bindungsfähiger, als ihnen anfangs zugetraut wurde. Sie sind keine Gefäße, die befüllt werden wollen, sondern brauchen einen Perspektivenwechsel vonseiten des Menschen. Es sind die Widerspenstigen, die dem Menschen seine Schwächen und Unzulänglichkeiten aufzeigen. Eine Chance, keine Schande, denn wer genau zuhört, der wird letztlich tausendfach belohnt.