AUSBILDUNG

Herausforderung blindes Pferd

Ein Artikel von Uta Over | 13.02.2025 - 12:06
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Meistens sind Augenerkrankungen der Auslöser für Blindheit bei Pferden. © www.Slawik.com

Pferde werden selten blind geboren, der Grund für eine angeborene Blindheit ist vermutlich auch aus diesem Grund wenig erforscht. Besser wissenschaftlich untersucht und in den letzten Jahrzehnten auch effektiver zu behandeln ist die häufigste zur Blindheit führende Augenerkrankung, die Periodische Augenentzündung. An ihr leiden Schätzungen zufolge zwölf Prozent der gesamten Weltpopulation. Die Krankheit ist sehr schmerzhaft und führt unabdingbar zur Erblindung. Die Ansicht, dass ein erblindetes Pferd keine Schmerzen mehr hat, hat sich als nicht haltbar erwiesen, so dass Fachärzte im Endeffekt zur Entnahme der geschädigten Augen raten.

Allein der Gedanke daran lässt die meisten Pferdebesitzer:innen schaudern – und zugegebenermaßen ist der Anblick eines Pferdes mit leeren Augenhöhlen auch schmerzlich und gewöhnungsbedürftig. Hinzu kommt, dass es leider immer noch Tierärzte gibt, die dem skeptisch gegenüberstehen und leider auch solche, die einem blinden Pferd keine Lebensqualität zugestehen und zum Einschläfern raten. In solchen Fällen sollte man sich nach einem Tierarzt umsehen, der sich mit Augenkrankheiten auskennt, und eine zweite oder auch eine dritte Meinung einholen.

Die operative Entfernung der Augen ist tierärztlich gesehen ein relativ kleiner Eingriff. Wurde er vor einigen Jahren nur stationär an einer Klinik vorgenommen, so wird er heute oft ambulant im häuslichen Stall und sogar in Standnarkose durchgeführt. Schon kurze Zeit nach der Operation ist das Pferd wieder bei vollem Bewusstsein und kann den Heilungsprozess in vertrauter Umgebung erleben. So schwer diese Entscheidung vielen Pferdebesitzer:innen auch fällt – nach der Operation geht es fast allen Pferden deutlich besser, wenn auch meist noch eine schwierige Zeit der Umstellung vor ihnen liegt.

Den Alltag erleichtern

  • Viel und leise mit dem Pferd sprechen. Auch bei der Stallbarbeit ruhig mal was erzählen, damit das Pferd sich immer der Gegenwart des Menschen bewusst ist, und es gelegentlich auch gezielt ansprechen. Die Stimme hat jetzt deutlich an Wichtigkeit gewonnen und ist unabdingbar für die Kommunikation.
  • Das befreundete Pferd mit einer Duftmarke oder – wenn es das duldet – mit einem leisen Glöckchen versehen. Dann kann es von dem blinden Pferd schneller geortet werden. Manche Besitzerinnen von blinden Pferden tragen auch selbst ein kleines Glöckchen z. B. am Gürtel, um sich ihrem Pferd bemerkbar zu machen.
  • Ecken und Kanten (auch von Holzwänden) anfangs mit einem dicken Schaumstoffstreifen versehen, so dass ein Rempler (der nach einiger Zeit nicht mehr passiert) nicht zu Verletzungen führt.
  • Rat und Hilfe findet man bei der IG Blinde Pferde.

Der Umstellung Zeit geben

Es ist ein großer Unterschied, ob ein Pferd langsam erblindet oder ob es von einem auf den anderen Tag durch einen Unfall o. ä. sein Augenlicht verliert. Bei einem langsamen Prozess können sich die anderen Sinne des Pferdes nach und nach darauf einstellen und das fehlende Sehvermögen ausgleichen. Anders ist es nach einer abrupten Erblindung: Für das Pferd und seine Besitzerin bricht eine Welt zusammen; und damit müssen beide fertig werden.

Die Umgewöhnungszeit ist schwierig. Ganz besonders für das hochspezialisierte Fluchttier Pferd, das wortwörtlich immer alles im Auge behält. Die Verunsicherung muss riesengroß sein. Oft fallen die Pferde in der ersten Zeit regelrecht zusammen, taumeln und wirken desorientiert. Sie brauchen viel Sicherheit, die sie fühlen können: ein dem Pferd wohlgesonnener Artgenosse in seiner Nähe, vertraute Stimmen und Berührungen und erst einmal Ruhe und keine Ansprüche, keinen Ortswechsel und nichts Neues.

Nach und nach werden die anderen Sinne stärker ausgeprägt und kompensieren weitgehend die verlorene Sehfähigkeit. Am einfachsten kann man es am lebhafteren Ohrenspiel blinder Pferde sehen. Das Hörvermögen des Pferdes ist ohnehin stärker ausgeprägt als sein Sehvermögen – jetzt kommt ihm das zugute.

Die Umgewöhnungszeit kann bis zu einem Jahr dauern – je nach Umweltbedingungen. Dabei ist Bedauern und Betüddeln unsinnig bzw. sogar kontraproduktiv, denn Pferde sind pragmatisch. Ist das Pferd erst mal von seinen Schmerzen befreit und fühlt es sich langsam gesünder, wird es von sich aus bemüht sein, seinen Zustand zu verbessern. Darin braucht es Unterstützung und Bestärkung, Mitleid ist fehl am Platz.

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Ein blindes Pferd kann (fast) alles, was ein sehendes Pferd auch kann, wenn es einen verlässlichen Partner – sei es Mensch oder Pferd – hat. © www.slawik.com

Was sich noch verändert

Die Blindheit hat nicht nur Auswirkungen auf den Orientierungssinn der Pferde, sondern auf ihren gesamten Organismus. So wird beispielsweise der Stoffwechsel teilweise durch den Lichteinfall durch die Augen gesteuert. Man weiß, dass die Dauer des Tageslichts u. a. Einfluss auf die Rosse der Stuten hat und die Häufigkeit der Rosse steigert. Viel Licht bedeutet öftere Rossen, während sie im Winter teilweise ganz aussetzen.

Auch der Fellwechsel wird durch den Lichteinfall in die Augen gesteuert. Sind die Augen nicht mehr da, fällt auch der Steuermechanismus aus. Deutlich erkennen kann man dies daran, dass die Pferde das Fell zu den unmöglichsten Zeiten wechseln und somit im Sommer Winterfell ausprägen und umgekehrt. Ein Isländer bei 35° im Winterfell ist ebenso problematisch wie einer bei -10° C im Sommerfell. Das muss man sorgsam im Auge behalten und mechanisch mit Scheren bzw. mit einer wärmenden Decke ausgleichen. Zudem verschlechtert sich die Fellqualität, auch das Hufwachstum kann betroffen sein, die Beschlagszeiten können variieren, auch die Hornqualität kann leiden. All diese Veränderungen sind durch nichts rückgängig zu machen, weil das Regulativ Licht fehlt. Man kann nur genauer hinschauen und gegensteuern.

Offensichtlich wirkt die Blindheit auch auf das Gleichgewichtsorgan. So bemerkt man hauptsächlich bei plötzlich erblindeten Pferden oft Schwindelanfälle und Probleme, wenn es um eine Kurve oder im Kreis geht. Das gibt sich nach einiger Zeit und kann durch wiederholte Übungen – wie auf Signal Achten oder Kreise gehen – verbessert werden.

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Optimal ist es, wenn man zwei befreundete Pferde zusammen in einem Offenstall mit Paddock und eigener kleiner Weide halten kann. ©www.Slawik.com

Vorausschauende Haltung

Wenn irgend möglich, sollte ein blindes Pferd nicht umziehen müssen, denn die erste Zeit wird stressig. In der heimischen Umgebung ist alles vertraut. Abmessungen, Gerüche und Geräusche haben sich nicht verändert und geben Sicherheit. Wichtig auf großen Ausläufen und auch auf Weiden ist, dass es keine Hindernisse gibt. Bäume und Gräben sind eine Gefahr, sie müssen beseitigt bzw. entschärft werden. Der Untergrund sollte relativ eben sein, die Einzäunung auf jeden Fall fühlbar bzw. hörbar: Mit der Zeit bildet sich das Hörvermögen und das Gefühl für Hindernisse auf Distanz so gut aus, dass ein blindes Pferd einen massiven Holzzaun hören wird. Ein auch dicker Baumstamm hingegen hat nicht genügend Masse, um den Schall zu reflektieren. Und ein herumstehender Eimer kann zu einem ernst zu nehmenden Unfall führen. Hier ist die Umsicht des Menschen gefordert.

Einzelhaltung in der Box ist möglich, dann aber wenigstens mit Paddock und freundlichen Nachbarpferden. Optimal ist es, wenn man zwei befreundete Pferde zusammen in einem Offenstall mit Paddock und eigener kleiner Weide halten kann. Auch eine kleine Gruppe gut aufeinander abgestimmter Pferde kann funktionieren, wenn das blinde Pferd unter diesen einen Freund/eine Freundin hat und es auch zu Zeiten von Zufütterung kein ernsthaftes Gerangel gibt. Das blinde Pferd wird sich an seinem Gefährten orientieren – und ein Fremder wird nicht einmal wahrnehmen, dass es blind ist.

Kann sich das blinde oder halb blinde Pferd in der Herde oder Gruppe nicht behaupten, muss es unbedingt herausgenommen werden. Denn vermutlich wäre es nicht nur das rangniedrigste Pferd – es würde aufgrund seines mit der Behinderung verbundenen unsozialen Verhaltens auch noch gemobbt und wäre dann tatsächlich gefährdet.

Da Pferde soziale Herdentiere sind und es auch gegen das Tierschutzgesetz verstoßen würde, ein Pferd allein zu halten, braucht das Pferd aber auf jeden Fall einen Gefährten, ein sogenanntes „Beistellpferd“. Das klingt immer etwas abwertend, bedeutet meist aber nur, dass dieses Pferd nicht mehr geritten/gefahren werden darf und berücksichtigt in keiner Weise, wie wichtig das Beistellpferd als Sozialpartner ist. Entsprechend sorgsam muss man es aussuchen, denn es muss in Temperament und Wesensart natürlich passen, was durchaus eine längere Suche erfordern kann.

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Eien vertraute Bezugsperson ist für ein blindes Pferd besonders wichtig.   © www.Slawik.com

Bezugspersonen und Schlüsselwörter

Es reicht nicht, wenn das Pferd seiner Reiterin in jeder Situation voll vertraut – es muss auch gefüttert und versorgt werden. Ständig wechselndes Stallpersonal ist für ein blindes Pferd deutlich stressiger als für ein sehendes. Das heißt nicht, dass nur zwei oder drei Personen mit dem Pferd umgehen sollten, aber in Situationen, in denen Vertrauen nötig ist (Besuch des Schmieds, Tierarztes o. ä.), sollte eine vertraute Bezugsperson anwesend sein; und der weitere Umkreis sollte ein wenig darin geschult werden, sich dem Pferd schon von weitem bemerkbar zu machen, indem man es anspricht, und ihm nicht im Vorbeigehen mal einfach so auf die Kruppe zu klopfen …

Auch wenn die Reiterin einmal auf Urlaub ist oder krank ist, braucht das blinde Pferd dringender als ein sehendes einen Vertrauten, der sich darum kümmert und die üblichen Handreichungen so ausführt, wie es das gewohnt ist. Es sollte also immer mehr als eine vertraute Bezugsperson geben – und die Absprache untereinander ist ebenso wichtig. Denn Pferde sind Gewohnheitstiere, und die Änderung eines gewohnten Ablaufs bringt schon ein sehendes Pferd oft genug durcheinander. Äußerst wichtig in diesem Zusammenhang ist die Vereinbarung gemeinsamer Schlüsselwörter für verschiedene Situationen. Diese Wörter müssen einem genau wie die schnellen Kommandos bei Hütehunden in Fleisch und Blut übergehen, so dass man sie ohne vorher nachzudenken instinktiv benutzen kann. Das wichtigste Schlüsselwort, das so lange trainiert werden muss, bis es sekundenschnell klappt, ist „Stopp!“. Wenn das Pferd bei einem anderen Kommando mal ein bisschen schludert, ist das ärgerlich – dieses Kommando aber muss unbedingt sofort befolgt und daher anfangs und gelegentlich auch zwischendurch immer wieder trainiert werden.

Schlüsselwörter

In der Kommunikation mit blinden Pferden hat es sich bewährt, für Standardsituationen immer gleiche Schlüsselwärter einzuführen und zu üben. Hier ein paar der wichtigsten:

„Stopp“ ist die Anweisung, die das Pferd unbedingt und prompt befolgen muss, denn das prompte Anhalten kann unter Umständen lebensrettend sein.

„Steh“ ist das zweitwichtigste Kommando. An der Hand und unterm Sattel und auch aus einigen Metern Entfernung üben.

„Geh voran!“ Zuerst an der Hand beim Antreten üben, später auch im Sattel mit oder ohne die entsprechenden körperlichen Hilfen. Dieses Kommando kann im Gelände zusammen mit den reiterlichen Hilfen Mut machend wirken.

„Zurück“ erst vom Boden aus, anfangs mit Berührung, später nur verbal und dann vom Sattel aus in allen Varianten üben.

„Komm rum“, also beiseite gehen, anfangs mit der Berührung durch eine Gerte üben, später einfach mit ausgestrecktem Arm und Fingerschnippen. Das Pferd weiß schon, nach welcher Seite es weichen soll, wenn der Mensch neben ihm steht.

Nichts ist unmöglich

Ein blindes Pferd kann (fast) alles, was ein sehendes Pferd auch kann, wenn es einen verlässlichen Partner – sei es Mensch oder Pferd – hat. Aber natürlich gibt es Grenzen: Vermutlich kann es nicht mehr (oder nur in extremen Ausnahmefällen) eine dreifache Kombination springen. Hindernisse aber wie die einer Working-Equitation-Prüfung sind mit einer guten Reiterin keine unbewältigbaren Aufgaben, einen Slalom und selbst steile Brücken meistert ein blindes Pferd absolut sicher. Reiten ist also kein Problem, wenn Pferd und Reiterin aufeinander eingestimmt sind und sich rückhaltlos vertrauen. Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg, der Pferd und Reiterin fester aneinanderbindet, als es mit einem sehenden Pferd der Fall ist. Das bezeugen die Aussagen vieler Reiterinnen, die ihren blinden Pferden teilweise mehr vertrauen als den sehenden, die sich andauernd ablenken lassen. Auch vor dem Wagen geht ein blindes Pferd – zumal, wenn es einen Pferdefreund an seiner Seite hat – mühelos.

Bei den Interviews zu diesem Thema fiel mir wie bisher bei keinem anderen der zahlreichen, die ich in einigen Jahrzehnten gemacht habe, auf, mit wie viel Liebe, Hochachtung und innerer Verbundenheit die Besitzerinnen und Halterinnen von ihren Pferden sprechen (es waren übrigens nur Frauen, die sich gemeldet hatten). Alle waren glücklich und zufrieden mit ihren Pferden, haben teilweise den Leistungssport aufgegeben, ohne ihn zu vermissen, und genießen eine Verbundenheit, die sie bisher auch mit ihren sehenden Pferden nicht erlebt hatten. Nie bin ich so beschwingt aus Interviews gegangen wie aus diesen. Das sollte Mut machen, halb blinden und blinden Pferden eine Chance zu geben. Es ist auch eine Chance für einen selbst, auf einer anderen als der bisherigen Ebene mit seinem Pferd zu kommunizieren und zufrieden miteinander zu leben.