Bewegungsapparat

Kälte macht steif

Ein Artikel von Claudia Götz | 19.12.2024 - 11:38
trakehner815888.jpg

© www.slawik.com

Dass Kälte und Nässe das Wohlbefinden negativ beeinflussen, ist bei uns Menschen sehr gut wissenschaftlich untersucht. Und auch die Zusammenhänge sind klar: Kühlt Muskulatur aus, verspannt sie. Wärme hingegen entspannt sowohl Muskeln als auch Faszien. Das allein mindert Muskelschmerzen, es nimmt aber auch den Druck von Gelenken, sodass diese – auch bei Beeinträchtigungen wie (beginnenden) Knorpelschäden oder Arthrosen – besser und schmerzfrei funktionieren. Auch bei vielen Pferden merken die Besitzer:innen bei kaltem und/oder nassem Wetter negative Veränderungen. Eine Studie, die ältere Schmerzpatienten untersuchte (tinyurl.com/3xvnjaf5), zeigte, dass bei den gesunden Pferden der Kontrollgruppe der Herbst mit seinen veränderten Witterungsbedingungen (kühlere Umgebungstemperatur oder Luftfeuchtigkeit) sogar eine deutlichere Verschlechterung herbeiführte als bei den Pferden mit chronischen Erkrankungen.

eingedeckt102014.jpg

Korrektes und durchdachtes Eindecken kann helfen, die Muskulatur geschmeidiger zu halten. © www.slawik.com

Muskeln mögen keine Kälte

Ist ein Pferd häufiger oder für einen längeren Zeitraum Kälte und/oder Nässe ausgesetzt, kühlt nicht nur die Muskulatur aus. Auch Faszien werden beeinträchtigt: Sie verkleben relativ schnell, was nicht nur die Funktionalität und Geschmeidigkeit der Muskulatur weiter verschlechtert, denn in den Faszien sitzt ein wichtiger Teil des Immunsystems – Mastzellen und Makrophagen. In verklebtem, verfilztem Bindegewebe leidet ihr Einsatz. Somit können auch Abbauprodukte des Muskelstoffwechsels nicht effizient entsorgt werden.

Beim Menschen ergaben Untersuchungen der Muskelleistung ein zwei- bis fünfprozentiges Minus für jedes Grad kältere Außentemperatur. Zahlreiche Studien mit menschlichen Athleten ergaben auch, dass sich verminderte Muskeltemperatur aus mehreren Gründen nachteilig auf die Leistung auswirken kann. So werden die sogenannten kontraktilen Strukturen in den Muskelfasern bei Kälte nicht mehr so schnell aktiviert, denn auch die Nerven, die den Muskel versorgen, reagieren dann langsamer. Zudem nimmt bei Kälte der Blutfluss zum Muskel in Ruhephasen ab, um Wärmeverluste zu minimieren. Biomechanisch sind also ausgekühlte oder nicht durch Bewegung aufgewärmte Muskeln steifer als warme und aufgewärmte. All dies führte in den Humanstudien zu einer verminderten sportlichen Leistung. Klar also, dass auch bei Pferden bei kälteren Temperaturen das Warm-up besonders große Bedeutung hat.

aufwaermen_winter218.jpg

Schritt gehen gibt Muskeln und Gelenken die Zeit, um auf Betriebstemperatur zu kommen, und vertreibt Steifheit. © www.slawik.com

Aufwärmen ist alles

Untersuchungen bei Pferden zum Aufwärmen vor dem Training bestätigen dies. Ein Überblick über Studien (tinyurl.com/2h4patvw) zum Thema Aufwärmen bei Galopprenn- und Sportpferden unterschiedlicher Disziplinen fasst die Ergebnisse so zusammen: Aufwärmen führt unter anderem zu einem Anstieg der Körpertemperatur und zu Anpassungen an das Training wie höhere Herzfrequenz, schnellerer Sauerstoffverbrauch der Muskeln und geringere Akkumulation von Blut- und Muskellaktat. 

Grundsätzlich fällt es Pferden beim Training bei kühleren Temperaturen zwar leichter, mit niedriger Herzfrequenz Leistung zu bringen. Die Gefäße in der Haut sind nicht damit „beschäftigt“, Wärme nach außen abgeben zu müssen, es steht mehr Blut für die arbeitende Muskulatur zur Verfügung. Ist das Pferd aber noch nicht aufgewärmt, tritt ein anderer Effekt zutage, der dafür verantwortlich ist, dass sich Pferde steifer anfühlen oder kürzere Schrittlängen haben. Er hat damit zu tun, wie Muskelgruppen zusammenarbeiten. Zieht sich ein Muskel (Agonist) zusammen, gibt es auch eine kleine Kontraktion des Gegenspielers (Antagonisten). Grundsätzlich ist das Zusammenspiel von Agonisten und Antagonisten bei Bewegungsabläufen sehr komplex und wird fortwährend mit Hilfe der Rückmeldung der Propriozeptoren koordiniert. Man nimmt an, dass die Gegenspieler in nicht aufgewärmtem Zustand stärker aktiviert werden – eine sinnvolle Einrichtung, um den Agonisten vor Verletzungen zu schützen. Mit dem Effekt, dass bei kälteren Temperaturen der Bewegungsumfang zuerst einmal verringert ist. Kalte Temperaturen erhöhen zudem die Dicke (Viskosität) der Synovialflüssigkeit, wodurch sich Gelenke auch für ein Pferd steifer anfühlen können.

schwitzen_winter218.jpg

Warm-up und Cool-down: bei Kälte umso wichtiger © www.slawik.com

Von Cool-down bis Strohwisch

Bei Pferden entstehen die offensichtlichsten Probleme mit Nässe und Kälte, wenn sie auf der Weide, dem Paddock oder im Offenstall nass werden, weil sie sich nicht unterstellen können, weil sie schweißnass geritten und danach nicht gut trocken werden, oder weil man sie bei zu kaltem Wetter wäscht und nicht entsprechend versorgt. Dabei sind jeweils unterschiedliche Faktoren und Probleme zu beachten: Ein Pferd, das länger im Regen steht, ohne dass es schon ausreichend Winterfell entwickelt hat, muss man wirklich (etwa mit Decken und/oder einer Strohwisch-Massage, siehe Kasten oben) aufwärmen und in den folgenden Tagen beobachten, ob die Muskulatur am Rücken sich verspannt hat. Bei einem Pferd, das – mit eventuell schon gut entwickeltem Winterfell – ins Schwitzen geraten ist, ist ein entsprechender Cool-down für die Muskulatur wichtig. Man geht also lange Schritt und sollte den verklebten Schweiß durch Waschen, Wälzenlassen und anschließendes Ausbürsten oder Abreiben mit einem Strohwisch aus dem Fell holen. Denn die seifigen Bestandteile des Pferdeschweißes sorgen sonst dafür, dass das Fell lange feucht bleibt und die Verdunstungskälte das Pferd weiter auskühlt. Außerdem leidet die Thermoregulation durch verklebtes Fell. Entscheidet man sich, das verschwitzte Pferd zu waschen, sollte bei kühleren Temperaturen idealerweise mit warmem Wasser oder nur kurz gebraust werden und das Pferd nach dem gründlichen Abziehen des Wassers aus dem Fell zum Trocknen ein- und bei Bedarf auch mehrmals umgedeckt werden. Wer kontrolliert, ob das Pferd unter der Decke warm genug ist, kann entsprechend reagieren.

Tradiertes Wissen: Der Strohwisch

Besonders im Übergang zwischen den Jahreszeiten lässt sich Schwitzen nicht immer vermeiden. Traditionell wurden bis vor wenigen Jahrzehnten verschwitzte Pferde trockengerieben. Dies hat – im Gegensatz zu etlichen modernen Maßnahmen – viele Vorteile fürs Pferd: Das Trockenreiben „mit Strohwischen oder mit einem Lappen“ (Schlipfs populäres Handbuch der Landwirtschaft, Parey Verlag 1918) nimmt nicht nur den Schweiß oder Nässe aus dem Fell. Es verhindert, dass das Fell verklebt und stellt so seine Thermoregulation sicher. Zugleich regt es die Durchblutung an und sorgt so dafür, dass Abbauprodukte des Muskelstoffwechsels besser abtransportiert werden können. Das erhält die Geschmeidigkeit der Muskultur und wirkt Verklebungen der Faszien entgegen. 

Massagen mit Strohwischen wurden auch verwendet, um bei einer leichten Kolik Erleichterung zu verschaffen. Der Grund: Sie können helfen, den Kreislauf und die Darmtätigkeit anzuregen und/oder die Bauch- und Rückenmuskeln zu entspannen. Für einen Strohwisch wird eine Handvoll möglichst langes Stroh zu einem handlichen Paket gefaltet und verdreht, sodass man es wie einen Striegel in der Hand halten kann. Solch lange Halme gibt es aufgrund von gespritzten Halmverkürzern und kurzhalmigeren Sorten kaum noch. Ein raues Frotteehandtuch kann stattdessen verwendet werden, muss aber häufig gewaschen werden.

trakehner_hannov_wb10239.jpg

Werden die Temperaturen ungemütlicher, reiten wir mitunter weniger: Der Bewegungsmangel schadet zusätzlich.  © www.slawik.com

Nebeneffekt Bewegungsmangel

Weniger Beachtung findet oft ein weiterer Faktor, der sich in der kalten Jahreszeit indirekt negativ auf den Bewegungsapparat unserer Pferde auswirkt. Wird es draußen herbstlich ungemütlich, stehen die meisten Pferde mehr herum als im Sommer – egal ob im Offenstall oder in Boxenhaltung mit Paddocks. Besonders wenn dann auch noch die Weidesaison zu Ende ist und die Pferde nicht mehr mit tiefem Kopf ihre Rückenmuskulatur dehnen und sich durch Zupfen von Gras eine Minimobilisierung für Genick und Halswirbelsäule holen, merken viele Reiter:innen, dass ihre Vierbeiner steifer werden. 

Das Bewegungstier Pferd braucht regelmäßige, angepasste Bewegung, um gesund und mobil zu bleiben. Wer das missachtet, bekommt die Quittung nicht nur in Form von Problemen im Bewegungsapparat, auch Koliken und Kotwasser nehmen mit Beginn der kalten Jahreszeit typischerweise zu. Dass die Pferde knackiger, lustiger oder unberechenbarer werden, hat ebenfalls mit der verminderten Bewegung und dem Bedürfnis des Pferdes, Abhilfe zu schaffen, zu tun. Besonders offensichtlich wird dies, wenn Temperaturen schlagartig fallen. Mit ein Grund dafür ist, dass der Körper des Pferdes – wie bei anderen Veränderungen Training oder Haltung betreffend – Zeit braucht, sich anzupassen.

solarium8204.jpg

Wärme in jeglicher Form kann gut tun, auch von außen. © www.slawik.com

Was sich noch verbessern lässt

Die Lösungsansätze, wenn ein Pferd sich in der kalten Jahreszeit anfangs steifer anfühlt, sind vielfältig und individuell. Grundsätzlich gilt: So gut wie möglich verhindern, dass eine muskuläre Verschlechterung eintritt, und immer ausreichend und korrekt aufwärmen. Bei ersterem reichen die Maßnahmen von angepasster Bewegung und optimierter oder veränderter Haltung über Eindecken und Futterzusätze (Vitamin E, Magnesium oder Aminosäuren wie Lysin, Methionin oder Threonin) bis zu physikalischen Anwendungen (Massagen, Moor-Packungen, Solarium). Beim Aufwärmen (und auch beim Cool-down) ist vielen nicht klar, was physiologisch sinnvoll ist. Im Zweifelsfall erreicht man genau das Gegenteil von dem, was gewünscht wäre, macht das Pferd für den Moment lockerer als es beim Aufsteigen war, verkürzt und verfilzt aber auf Dauer dennoch die Muskulatur. Die Folge: Der Vierbeiner wird immer steifer. Dies kann vor allem dann passieren, wenn man zu kurz Schritt reitet oder führt. Das absolute Minimum sind 15 Minuten, 20 wären vor allem im Winter besser. Tipp: Das bekommt man in der Regel nur dann hin, wenn man auf die Uhr schaut und die Zeit nicht nur schätzt. Wer das Handy in den Flugmodus schaltet, wenn er aus dem Stall geht, und gleichzeitig einen Timer einstellt, ist auf der sicheren Seite. Es ist sinnvoll, bereits gegen Ende der Schrittarbeit lösende Elemente einzubauen – egal ob noch vom Boden aus oder bereits im Sattel, und angepasst an Alter und Ausbildungstand. Das anfängliche Aufwärmen im Schritt findet am hingegebenen oder langen Zügel statt. Ein Pferd, das dafür zu sehr unter Strom steht, wird am sinnvollsten geführt. Geschorene Pferde sollten bei sehr niedrigen Temperaturen mit (Abschwitz-)Decke aufgewärmt werden. Ebenso wichtig ist ausreichend Schritt beim Cool-down, auf alle Fälle so lange, bis sich die Atmung normalisiert hat. Lockeres Austraben durch Zügel-aus-der-Hand-kauen-Lassen vor dem abschließenden Schritt am langen oder besser hingegebenen Zügel dehnt noch einmal die Rückenmuskulatur und beugt so Steifwerden vor.

Man muss sich klar machen: Grundsätzlich kommen Pferde mit Kälte und Nässe deutlich besser zurecht als wir. Aber nachdem wir mit ihnen arbeiten und Leistung von ihnen fordern, ist es unsere Verantwortung und – nicht zuletzt – in unserem Interesse, dafür zu sorgen, dass sie möglichst bis ins fortgeschrittene Alter geschmeidig bleiben.