Hengste sind Pferde wie alle anderen auch, soziale Interaktionen mit Artgenossen sind ein integraler Bestandteil ihres täglichen Lebens. Und diese gehen weit über die Bemühungen für Nachwuchs zu sorgen, hinaus. Das bestätigt eine aktuelle Übersichtsstudie, die auf Basis von 172 wissenschaftliche Arbeiten entstand.
In ihrer Arbeit ging es Aleksandra Górecka-Bruzda, Joanna Jaworska und Christina R. Stanley vor allem darum, die vielschichtigen Herausforderungen zu dokumentieren, mit denen sich frei lebende Hengste konfrontiert sehen, die Rolle, die sie in sozialen Gruppen spielen, und die sich daraus ergebenden sozialen Bedürfnisse.
„Durch das Verständnis für ihre Herausforderungen und die Art und Weise, wie sie darauf reagieren, haben wir die Bedeutung des sozialen Umfelds für den Hengst hervorgehoben“, schreiben die Autorinnen in der Zeitschrift Animals. Die Forscherinnen hoffen, dass ihre aus dem Leben wilder Hengste gewonnenen Erkenntnisse dazu führen, dass deren Bedürfnisse auch in der modernen Haltung besser erfüllt werden.
Der Hengst, ein soziales Lebewesen
Tatsächlich klafft die Schere zwischen dem Sozialverhalten wildlebender Hengste und dem domestizierter Pferdemänner weit auseinander. In freier Wildbahn bleiben junge Hengste bis zum Alter von etwa zwei Jahren im Familienverband bei ihrer Mutter und deren Herde. Danach formen sie zusammen mit anderen männlichen Pferden eine Junggesellengruppe.
Diese reinen „Männergesellschaften“ sind – anders als Familienverbände – vergleichsweise instabil, da die jungen Hengste sie immer wieder verlassen, um selbst an Stuten zu kommen. Entweder indem sie wandernde, verstreute Stuten „aufsammeln“, oder indem sie bestehende Herden für sich erobern. Diese Zeitspanne zwischen dem Fortgang aus einer Junggesellengruppe und der Gründung/Übernahme einer Herde ist allerdings eine von nur zwei möglichen Situationen, in denen ein Hengst auf sich alleine gestellt ist. Dieser Fall ergibt sich sonst nur, wenn ein Hengst seine Herde an einen Konkurrenten verloren hat und sich in Folge in sozialer Isolation befindet. Sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt, suchen entthronte Ex-Herdenchefs jedoch rasch wieder Anschluss an eine Junggesellengruppe.
Isoliert und frustriert
Deutlich anders gestaltet sich das Leben domestizierter Hengste. „In vielen Fällen leben Hengste ein einsames Leben in einer relativ kargen Umgebung und haben oft keinen direkten sozialen Kontakt zu anderen Pferden.“ Der Kontakt zu Stuten endet für die meisten Hengste mit der Trennung von der Mutterstute, die üblicherweise im Alter zwischen vier und sieben Monaten erfolgt und damit deutlich früher, als in freier Wildbahn (2 Jahre). Das frühe Absetzen hat zur Folge, dass Hengste keine Gelegenheit bekommen, auf natürliche Art und Weise das Sexualverhalten von Stuten zu beobachten. Werden sie später als Deckhengste gehalten, sollen sie sich mit jeder rossigen Stute paaren, die ihnen vorgestellt wird. Die Stuten selbst sind ihnen meist unbekannt. Manchmal werden Hengste aber auch dazu angehalten, eine verwandte Stute zu decken, sofern der Züchter dies für sinnvoll erachtet.
Die größte Bürde im Leben domestizierter Hengste ist jedoch die soziale Isolation. „Die soziale Rolle, für die sie sich entwickelt haben, wird nicht erfüllt, und das tröstliche soziale Feedback ihrer Familien- oder Begleitgruppen wird ihnen verwehrt“, so die Autorinnen. Als Folge droht Frustration, die abnormales Sexualverhalten, Stereotypien und sogar Selbstaggression auslösen kann.
Früheren Studien zufolge lebten im Jahr 2003 gerade einmal 6 % der Hengste zusammen mit anderen Pferden. 2011 hatte sich dieser Wert auf 11 % gesteigert, 2015 war knapp jeder vierte Hengst in Gruppenhaltung untergebracht. Auch wenn der Trend eindeutig in die richtige Richtung geht, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Mehrzahl der Pferdemänner nach wie vor den Großteil ihres Lebens allein in der Einzelbox, ggf. mit alleinigem Auslauf auf einem Paddock oder einer Koppel verbringt.
Das Fehlen sozialer Kontakte bleibt für ein Herdentier wie das Pferd nicht ohne Folgen. Der Stress der Isolation führt bei vielen Hengsten zu Verhaltensproblemen und Aggression. Auch Krankheiten, vor allem im Bereich der Atmung, der Verdauung und des Bewegungsapparates sind häufige Begleiterscheinung. Untersuchungen zufolge sind rund 50 Prozent der Hengste davon betroffen.
Ein erfüllte(re)s Leben als Hengst
Doch dem Frust und den gesundheitlichen Problemen isolierter Hengste lässt sich durch das richtige Management entgegenwirken. „Offensichtlich wäre die Weideaufzucht oder die Haltung eines Hengstes mit Stuten und Fohlen das ganze Jahr über die wünschenswerteste Methode, um die Bedürfnisse eines Hengstes zu befriedigen“, so Górecka-Bruzda und Kolleginnen. Das wäre vermutlich auch die Variante, die sich die Hengste aussuchen würden, hätten sie die Wahl. In der Praxis ist dieses Modell jedoch nur in Ausnahmefällen umsetzbar.
Realistischer ist die Gruppenhaltung von Hengsten, entweder mit Wallachen oder anderen intakten Pferdemännern. Was sich fast immer einrichten lässt, ist die Unterbringung in sogenannten Sozialboxen – spezielle Boxen mit Aussparungen in den Gitterabtrennungen, durch die sich benachbarte Pferde berühren und sozial interagieren können. Außerdem ist freie Bewegung auf der Koppel oder der Weide ein absolutes Muss. Am besten mit verträglichen Artgenossen. „Da Weidegang und ständige Fortbewegung im Freien die vorherrschenden Aktivitäten im Zeitbudget des Pferdes sind, ist der Zugang zu umweltgerechten Auslaufflächen und Weiden unerlässlich“, so die Autorinnen.
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Zufriedener Hengst, höhere Fruchtbarkeit?
Ein Stück weit besser machen lässt sich das Leben eines Hengstes außerdem, wenn man unnötiges Animieren durch Stuten außerhalb der Decksaison vermeidet. Auf diese Weise könne man Frust und potenzielle Aggression beim Hengst reduzieren, denn auchin freier Wildbahn beschränke sich die Fortpflanzung auf einen kurzen saisonalen Zeitraum, so die Autorinnen. „Wenn diese einfachen Empfehlungen umgesetzt werden können, werden deutliche Verbesserungen des Wohlergehens der Hengste schnell möglich sein“, so die Forscherinnen, die überzeugt sind, dass die verbesserte Lebensqualität nicht nur zu zufriedeneren und gesünderen Hengsten führt, sondern dass sie auch die Fruchtbarkeit der Tiere positiv beeinflussen kann.
Die Studie "The Social and Reproductive Challenges Faced by Free-Roaming Horse (Equus caballus) Stallions" von Aleksandra Górecka-Bruzda 1,*, Joanna Jaworska 2 und Christina R. Stanley wurde am 24. März 2023 in der Fachzeitschrift Animals veröffentlicht und kann hier in vollem Umfang nachgelesen werden.