Ausbildung

Die gefühlvolle Reiterhand: Was sie ausmacht, wie man sie bekommt

Ein Artikel von Dr. Britta Schöffmann | 09.03.2022 - 13:55
AdobeStock_465052107.jpeg

Zügelhilfen wirken auf höchst empfindliche Körperteile des Pferdes ein. Entsprechend fein sollten sie dosiert sein.
© Petra Fischer - AdobeStock.com

Zunächst einmal: Sämtliche Einwirkungen mit den Händen aufs Pferdemaul oder aufs Nasenbein des Pferdes sind, ähnlich wie jede Schenkelhilfe, sehr direkte Einwirkungen. Das heißt, dass das Pferd jede Bewegung der Reiterhände spürt, jedes Ruckeln, jedes Nachgeben, jede Druckveränderung in jegliche Richtung. Angesichts der Tatsache, dass das Pferdemaul und auch der Pferdenasenrücken höchst empfindliche Körperteile sind, sollte einem als Reiterin deshalb auch klar sein, dass alles, was man mit den Händen macht, extrem fein dosiert sein muss, will man dem Pferd nicht schaden.

Die Reiterhände führen im Allgemeinen die Zügel und stellen so die Verbindung zum Pferdemaul dar. Und dieses Maul mit seiner fleischigen Zunge, seinen großen Zähnen und vielen Tasthaaren und Nervenbahnen ist ein kleines Wunderwerk der Natur. Es dient dem Pferd nicht nur dazu, Nahrung aufzunehmen, sie zu kauen und zu schlucken. Es kann damit schmecken und schlecken, schmackhafte von weniger leckeren Grashalmen unterscheiden, das verhasste, dem Kraftfutter beigemischte pulvrige Medikament fein säuberlich im Trog zurücklassen, es kann vorsichtig zupfen, inbrünstig Fellpflege betreiben oder auch kraftvoll zubeißen. Und es kann die Sprache einer gefühlvollen Reiterhand verstehen, weil es gelernt hat, auf sich verändernde Druckverhältnisse entsprechend zu reagieren. Denn genau damit arbeitet die Reiterhand – mit wechselndem Druck.

Nun mögen manche aufschreien und Druck im oder am Maul ihres Lieblings vehement ablehnen. Aber ganz ohne Druck geht es nun mal nicht. Dabei ist allerdings nicht die Rede von psychischem Druck, sondern von mechanischem. Und den übt sogar eine Fliege aus, die auf der Pferde- oder Menschenhaut landet. Druck ist also nicht grundsätzlich etwas Negatives, sondern zunächst einmal lediglich eine physikalische Größe. Bezogen auf die durch die Reiterhände ausgeführten Zügelhilfen soll dieser Druck so eindeutig wie nötig, aber auch so leicht wie möglich sein. Und – das ist immens wichtig – er muss in dem Augenblick durch Nachgeben wieder ausgesetzt werden, in dem das Pferd wie gewünscht reagiert. Nur so kann es den Zusammenhang zwischen dem Handeln der Reiterin bzw. der Reiterhand und seinem eigenen Handeln bzw. Reagieren herstellen. Es lernt.

Handfehler_verdeckt.jpg

© PS


Reiterhand: Die neun häufigsten Fehler und ihre Folgen


Die richtige Position der Reiterhände ist mehr als bloße Formsache. Sie macht eine gefühlvolle Verbindung zum Pferdemaul erst möglich. Wir zeigen, welche die neun häufigsten Handfehler sind, und wie sie sich aufs Pferd auswirken. Mehr lesen ...

Von Fummlern und Eisenklauen

Damit es das kann und mit der Zeit auf immer feinere minimale Zügeleinwirkungen wie gewünscht antwortet, muss die Reiterin ihre Hände in jedem Moment kontrollieren können. Das erfordert jedoch einen sicher ausbalancierten Sitz, denn er ist Voraussetzung für eine vom Sitz unabhängig getragene, ruhige und auch korrekt positionierte Reiterhand. Wer noch unruhig sitzt, wird es nicht schaffen, seine Hände ruhig zu halten. Sie werden sich stattdessen auf und ab und vor und zurück bewegen und dem Pferd ununterbrochen Signale geben, die von seiner Reiterin eigentlich nicht geplant sind und vom Pferd deshalb auch nicht verstanden oder missverstanden werden oder einfach dauerhaft stören. Mit der Zeit stumpft das Pferdemaul ab – oder aber es wird überempfindlich.

Allerdings gibt es auch jede Menge Reiterinnen, die bereits über einen ausbalancierten Sitz verfügen und trotzdem mit ihren Händen viel zu viel statt so wenig wie möglich tun. Der Mensch ist nun mal ein handorientiertes Wesen, das seine Hände in beinahe jeder Lebenslage benutzt. Mit unseren fünf Fingern können wir fest anpacken, wir können schreiben, stricken, grob- oder feinmechanisch arbeiten, streicheln und liebkosen – und leider auch viel zu viel im Pferdemaul herumfuhrwerken.

Selbst beim Stehen agieren viele dauernd mit ihren Händen, ohne es überhaupt zu bemerken: eine Dauerbeschallung des so empfindlichen Pferdemauls. Richtig schlimm wird es, wenn Reiter mit ihren Händen nicht nur kippeln oder eisern gegenhalten, sondern auch noch rückwärts agieren. Eine Rückwärts-Zügelhilfe gibt es in der Reitlehre aus gutem Grund nicht, selbst beim Rückwärtsrichten wirkt die Hand nicht rückwärts, sondern das Pferd wird bei unveränderter Position der Hände in die annehmende Zügelhilfe hineingetrieben. Hände, die rückwärts wirken, also nach hinten ziehen, üben nämlich einen extremen Druck auf Zunge und die untere Lade des Pferdemauls aus und verursachen Schmerzen.

Drucktest neu.jpg

Anlehnung fühlen im Selbsttest: Mittel- und Zeigefinger mimen Ober- und Unterkiefer des Pferdes. © Pferderevue

Um Zunge, Lade und Unterkiefer vor dieser Einwirkung zu schützen, wird das Pferd je nach Typ entweder seine Kaumuskulatur anspannen und massiv gegenhalten oder seinen Unterkiefer öffnen und das Maul aufsperren. In beiden Fällen entsteht Druck auf die Kiefergelenke, auf den das Pferd wieder mit Verspannen des gesamten Unterkiefers bis hinauf ins Genick und von dort aus in den Rücken reagiert.

Wer’s nicht glaubt, sollte den Selbstversuch machen. Zeige- und Mittelfinger einer Hand übernehmen dabei abwärts hängend den Part des am Zügel stehenden Ober- und Unterkiefers des Pferdes. Nun ziehen Sie mit Ihrem anderen Zeigefinger den hängenden Zeigefinger kräftig vom Mittelfinger zur Seite weg. Sie werden bemerken: Entweder halten Sie mit Ihrem hängenden Zeigefinger gleich dagegen – oder Sie reagieren spätestens dann, wenn sich Ihr Zeigefinger nicht mehr weiter vom Mittelfinger entfernen lässt, ohne zu schmerzen. Ihr Bestreben wird sein, Ihre beiden Finger zusammenzuhalten, um das Grundgelenk ihres Zeigefingers zu schützen. Ähnlich wirken die Kräfte im Pferdemaul – nur dass es hier das Kiefergelenk ist, welches das Pferd mit seinen Reaktionen schützen will.

14540695421346.jpg

© www.slawik.com

9 Tipps und Übungen für eine leichte Hand am Zügel

Was ist zu viel, was ist zu wenig? Neun Tipps von Dr. Britta Schöffmann für den richtigen Kontakt zum Pferdemaul. Mehr lesen ...

Ein Händchen fürs Pferdemaul

Also lieber ganz offene Finger und die Zügel am besten durchhängen lassen? So einfach ist die Lösung auch nicht, denn ein loser Zügel kann durch Schlackern und Springen eine harte, weil ungeplante Einwirkung zur Folge haben und verhindert auch die feine, fast unsichtbare Übermittlung von Zügelhilfen Richtung Pferdemaul. Aus offenen Fingern lässt sich außerdem nicht mehr fein und gezielt nachgeben, wodurch die Reiterinnen zum Nachgeben dann ihren ganzen Arm einsetzen. Ein wirkliches Nachgeben im Sinne einer Minimaleinwirkung zu einem exakten Zeitpunkt ist so jedoch nicht möglich.

Perfekt ist die Reiterhand, wenn sie ohne großen Aufwand nur noch über kleinste Spannungs- und Winkelveränderungen in der Zügelfaust agiert, wenn sie quasi „atmet“. Im Zusammenspiel mit den übrigen Hilfen, allen voran den treibenden, wird die in ihrer perfekten Ausführung so wichtige Zügelhilfe auf ein Minimum reduziert und somit tatsächlich beinahe unwichtig. Letztlich kommt es aber nicht darauf an, ob die Reiterhand eingesetzt wird, sondern wie. Nicht umsonst bedeutet „ein Händchen für etwas haben“ so viel wie „gut mit etwas umzugehen wissen“. Gehen Sie gut mit dem Maul Ihres Pferdes um!