Verhalten

Trauernde Pferde

Ein Artikel von Martina Bartl | 19.04.2025 - 13:12
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Der siebenjährige Wallach Rondo steht lethargisch auf der Weide, frisst nicht und nimmt seine Umwelt kaum wahr. Sein Blick ist in sich gekehrt und wirkt traurig. Dieses Verhalten zeigt Rondo bereits einige Tage. Auslöser war der Tod seiner langjährigen Weidegefährtin, der 23-jährigen Teska, die eines Morgens völlig unerwartet auf der Weide verstarb. „Rondo wollte gar nicht weg von der Stute. Ich habe fast eine Stunde gebraucht, um ihn überhaupt einzufangen“, erzählt seine Besitzerin Martina C. Rondo fand nach dem Verlust nur langsam wieder zurück in einen Alltag ohne seine geliebte Teska. Erst nach einer Woche intensiver Trauer begann der Wallach wieder normal zu fressen und suchte erneut Kontakt zu anderen Pferden. 

Dies ist nur einer von vielen Berichten über Pferde, die nach dem Verlust eines engen Freundes ein Verhalten zeigten, dass sich als Trauer interpretieren lässt. Einige Pferdehalter:innen berichten von solchen Situationen, dass ihre Pferde wie Rondo apathisch wurden und schlechter gefressen hätten. Andere erzählen, dass ihre Pferde teils tagelang aufgewühlt und unruhig gewesen wären und sehr lange wiehernd nach dem verlorenen Partner gesucht hätten. Bei manchen Pferden saß das Trauma des Verlassenwerdens sogar so tief, dass sich bei ihnen echte Verlustängste manifestierten, und sie in Panik gerieten, wenn ein Herdenmitglied weggeführt wurde. Deuten wir ihr Verhalten richtig? Können Pferde tatsächlich trauern?

Neurologische Voraussetzungen erfüllt

Welche Voraussetzungen gibt es für das Fühlen von Emotionen und das Entwickeln eines entsprechenden Verhaltens? Physiologisch gesehen muss das Gehirn eines Tieres dazu fähig sein, auf Umweltreize hin Emotionen auszulösen. Dafür ist das limbische System verantwortlich, ein Komplex aus verschiedenen Gehirnstrukturen in unterschiedlichen Gehirnteilen. Neben der Auslösung von Emotionen ist das limbische System u. a. auch für die vegetativen und endokrinen Funktionen (z. B. Ausschüttung von Hormonen wie Endorphinen usw.) sowie das Sexualverhalten (mit-)verantwortlich und an der Gedächtnisbildung beteiligt. Man findet diese Strukturen bei Pferden genauso wie bei allen anderen Säugetieren, sie sind also, aus neurologischer Sicht, eindeutig dazu in der Lage, Emotionen zu entwickeln und zu verarbeiten. Trauer ist jedoch viel mehr als eine „einfache“ Emotion: Sie dient nicht direkt dem Überleben oder der alltäglichen Kommunikation, sondern hat eine komplexe soziale Funktion. Im Gegensatz zu Furcht, Wut oder Freude benötigt das Tier zur Bewältigung von Trauer außerdem einen mehr oder weniger langen Trauerprozess.

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Aus neurologischer Sicht eindeutig: Pferde können die Emotion Trauer empfinden und ausdrücken. © www.slawik.com

Von der Natur mitgegeben

Besonders für wildlebende Pferde ist eine enge soziale Bindung zu Herdenmitgliedern und ihrem Nachwuchs (überlebens-)wichtig. Obwohl Trauer nicht direkt der Verständigung und dem reibungslosen Zusammenleben innerhalb der Herde oder der Sicherheit des Pferdes dient, ist auch bei in Freiheit lebenden Pferden Trauerverhalten zu beobachten: „Wildlebende Pferde zeigen eindeutig ein Trauerverhalten beim Verlust eines Herdenmitglieds. Am schlimmsten trifft es Stuten, die ihr Fohlen verlieren. Sie trauern oft bis zur Geburt des nächsten Fohlens und bleiben lange in der Nähe ihres toten Nachwuchses. Ich konnte auch beobachten, dass einzelne Stuten ihre Herde verließen, wenn sie ihre beste Freundin verloren hatten, und sich einer anderen Herde anschlossen“, beschreibt der Deutsche Wildpferdeexperte, Tierfilmer und Buchautor Marc Lubetzki seine Erfahrungen.

„Von einem Pferd, das eines natürlichen Todes stirbt, Abschied zu nehmen, ist für die Herdenmitglieder leichter. Meist können die alten Pferde in wilden Herden wegen Zahnproblemen nicht mehr gut fressen. Sie magern ab und können der Herde irgendwann nicht mehr folgen. Wenn es so weit ist, legen sie sich ab und stehen nicht mehr auf. Die Herde steht dann oft noch einen Tag lang bei dem sterbenden oder bereits toten Herdenmitglied, bevor sie weiterzieht. Schwieriger und meist auch länger ist der Trauerprozess, wenn ein Herdenmitglied ohne Anzeichen plötzlich verschwindet oder verstirbt.“

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Der Verlust der Mutter im Fohlenalter oder des eigenen Fohlens löst starke, oft lange andauernde Trauer bei der Mutterstute aus. © Brummeier from Pixabay

Plötzliche Verluste sind die schlimmsten

Besonders dieses plötzliche Verschwinden eines Kumpels – z. B. bei einem Stallwechsel – verursacht bei vielen domestizierten Pferde großen Kummer, der oft einen langen Bewältigungsprozess nach sich zieht. Die Trauer kann in so einem Fall durchaus auch zeitverzögert auftreten, etwa wenn die Pferde es gewohnt waren, hin und wieder voneinander getrennt zu sein. „Mein Wallach Flash und seine Boxennachbarin Coco waren sehr lange ein Herz und eine Seele. Sie waren es aber auch gewohnt, mal einige Tage getrennt zu sein. Als Coco dann aus unserem Stall auszog, hat Flash das anfangs nicht sonderlich gestört. Erst Tage später ist er in eine tiefe Depression gefallen. Er hat sich von der Herde abgesondert, wirkte sehr teilnahmslos und traurig. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis er sich davon einigermaßen erholt hatte und sich wieder der Herde anschloss. Selbst sein ‚Ziehkind‘, die Stute Jacky, konnte ihm in dieser Zeit nicht wirklich helfen“, beschreibt Ursula B. die intensive Erfahrung mit ihrem trauernden Pferd, denn „diese Zeit war wahrscheinlich für mich genauso schlimm wie für Flash.“

Zu frühes Absetzen traumatisiert

Wo erwachsene Pferde eine Zeit lang leiden, kann für oft noch keine sechs Monate alte Fohlen ein echtes Trauma entstehen. Durch das (häufig für das Individuum zu frühe) abrupte Absetzen plötzlich von ihrer Mutter getrennt, leiden die Fohlen unter psychischen sowie physischen Folgen ihres Verlusts. Mittlerweile ist diese Problematik auch wissenschaftlich eingehend untersucht worden (siehe auch PR 8/23, ab Seite 32: […] Für den Pferdenachwuchs herrschen nach dem Absetzen ganz neue Lebensumstände: Der Schutz der Mutter fehlt ebenso wie die Milch, meist muss er mit neuen Artgenossen zurechtkommen und sich zudem oft noch an eine neue Umgebung sowie fremde Menschen gewöhnen. Dieser Stress äußert sich unter anderem durch Gewichtsverlust, häufiges Wiehern und Umherlaufen, einen gestörten Fress-, Trink- und Schlafrhythmus. Zudem kann das Immunsystem geschwächt werden, sogar spätere Verhaltensstörungen sollen mitunter auf das Absetzen zurückgehen. [...])

Dass auch die Mutterstuten unter dem plötzlichen Abschied von ihrem Fohlen leiden, unterstreicht die renommierte deutsche Verhaltensbiologin, Buchautorin und „Botschafterin der Pferde“ Marlitt Wendt: „Bei um ihr Fohlen trauernden Stuten habe ich es schon oft beobachten können, dass diese ihr Fohlen tagelang rufen und aktiv suchen. Leider kommt das viel zu häufig vor, da immer noch viel zu viele Fohlen zu früh abgesetzt und ihren Müttern entrissen werden. Für beide Seiten eine oftmals traumatische Erfahrung.“

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Den Tod eines Herdenmitglieds verarbeiten Pferde besser, wenn sie auf ihre Art Abschied nehmen können. © www.slawik.com

Trauer ist individuell

Klar ist: Pferde können trauern – doch ob und wie ein Pferd trauert, hängt von vielen Faktoren ab. Vorwiegend spielen der Grundcharakter des Pferdes eine Rolle, die Haltungsform (Einzel-/Zweier- oder Gruppenhaltung) und natürlich die Enge der Bindung zum verlorenen Pferdefreund. Und last but not least: Auch wenn Pferde die neurologischen Voraussetzungen erfüllen, um eine Emotion wie Trauer zu entwickeln und zu verarbeiten, müssen sie diese nicht alle gleichermaßen deutlich durchleben und/oder zeigen. Es gibt auch Pferde, die sich ohne große Verhaltensänderungen mit der neuen Lebenssituation ohne ihren Vertrauten arrangieren können, insbesondere dann, wenn sie in einem harmonischen Herdenverband leben. Auch wenn es ums Trauern geht sind Pferde – wie in allen anderen Bereichen– eben ganz individuell. 

Fallbeispiel

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Ein guter Freund, der dem Trauernden zur Seite steht, ist Gold wert (Symbolfoto).  © www.slawik.com

Trauerbegleiter auf Hufen

Die Geschichte von Daniela N. und ihrem Ricolo zeigt, dass Pferde nicht nur selbst trauern, sondern auch die Trauer ihrer Artgenossen mitzufühlen scheinen.

Mein Pferd Ricolo ist ein ganz Sensibler. Er hat seinen besten Kumpel zum Glück noch, aber er hat ein wahnsinniges Gespür für „Zurückgebliebene“. Schon dreimal war es bei uns im Stall der Fall, dass ein Pferd seinen besten Freund verlor. Zwei davon durften sich verabschieden, eine Stute weiß bis heute nicht, warum ihr bester Freund nicht mehr wiederkommt. Diese Stute litt tatsächlich am meisten von den dreien. Sie hat am längsten gesucht, geschrien, schlecht gefressen und war teilnahmslos. Ricolo hatte aber bei allen drei Trauernden sofort den Drang, ständig bei ihnen zu sein. Er hat sich nicht aufgedrängt, war aber für sie da. Nach zwei bis drei Wochen hat sich das Verhalten der Trauerenden gebessert. Allen dreien scheint er sehr gut über die Trauer hinweggeholfen zu haben, und alle sehen ihn bis heute als guten Freund, auch wenn er auf einer anderen Koppel steht.

Im Gespräch

Die Verhaltensbiologin Marlitt Wendt hat eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Pferde trauern können.

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Mutterstuten trauern besonders stark und lang um ihre Fohlen. © www.slawik.com

Könnte man die Definition von Trauer* auch auf Pferde anwenden?

Aus meiner Sicht auf jeden Fall. Auch Pferde trauern um verlorene oder auch nur verloren geglaubte Herdenmitglieder, um ein verstorbenes Fohlen oder sogar um einen Menschen, der eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Sie können, wie wir Menschen, durch einen echten Trauerprozess mit seinen unterschiedlichen Phasen der Bewältigung gehen. 

Seit der estnisch-US-amerikanische Psychologe und Hirnforscher Jaak Panksepp in seinem Buch „Affective Neuroscience – The Foundations of Human and Animal Emotions“ rund um die grundlegenden elementaren Emotionssysteme aller Säugetiere unter anderem das GRIEF-System als klar von anderen Emotionen abgrenzbare Gefühlslage beschrieben hat, sind wir in der Erforschung der Trauer bei Tieren ein Stück weitergekommen. Auch sie haben analog zum Menschen die prinzipiellen Hirnfunktionen, um Trauer zu erleben, sich allein und einsam zu fühlen und die Distanz zu ihren Liebsten zu spüren. Die Sehnsucht lässt sie ihre Trauer vermutlich ähnlich erleben wie uns die unsere.

Für mich ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, sich immer zu vergegenwärtigen, dass Pferde als hochsoziale Herdentiere auf starke und enge Beziehungen angewiesen sind und ein Verlust dieser Beziehungen in jeglicher Hinsicht schmerzt, egal ob durch den Tod eines befreundeten Pferdes oder durch einen Stallwechsel ausgelöst.

 

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Niedergeschlagenheit und Appetitmangel können trauernden Pferden sehr zu schaffen machen. © www.slawik.com

Gibt es eindeutige Anzeichen, dass ein Pferd trauert? Wie verhalten sich trauernde Pferde?
Anzeichen sind immer Verhaltensänderungen, die je nach Charakter des Pferdes und Art der Trauer unterschiedlich ausfallen können. Typisch kann ein Absondern von der Herde sein, eine innere Unruhe, die sich in einem scheinbar ziellosen Herumwandern äußert, ein In-die-Ferne-Schauen oder auch das wiederholte Rufen. Nach einer ersten Schockphase kann es dann sogar zu anhaltendender Niedergeschlagenheit kommen. Das betroffene Pferd kann beispielsweise gedämpft wirken, es erlebt eine depressive Phase mit den typischen Merkmalen wie einer gewissen Teilnahmslosigkeit an der Außenwelt, einer Freudlosigkeit und eventuell Appetitmangel. Manche Pferde verlieren in einer solchen Phase auch Gewicht, da sie weniger als gewöhnlich fressen. 

Kann der Pferdebesitzer dem Pferd beim Trauerprozess helfen?
Ich persönlich denke, dass es wichtig ist, die Trauer wahrzunehmen und das Pferd so gut wie möglich zu begleiten. Das bedeutet für mich zunächst einmal für das Pferd dazusein. Im akuten Falle eines toten Herdenmitglieds kann schon das Ermöglichen des Kontakts den Prozess beschleunigen. Man kann ihm die Gelegenheit geben, den toten Artgenossen zu beriechen und zu erkunden, im Idealfall bekommt es auch die Möglichkeit, gemeinsam mit den anderen Herdenmitgliedern das tote Pferd zu betrauern. Daneben ist es wichtig, dem Pferd die Zeit zu geben, die es braucht, um in seinen gewohnten Tagesablauf zurückzufinden. Manchmal erscheinen die Tiere nach dem Todesfall einige Tage etwas durch den Wind, in der Regel akzeptieren sie die Situation dann nach und nach.

Hatten Sie schon einmal ein oder mehrere trauernde Pferde erlebt?
Ja, hatte ich. Es war eine Art ,Totenwache‘. Das sterbende Pferd hat damals im Sterbeprozess ein letztes Mal gewiehert. Diese Art Wiehern habe ich später nur noch ein einziges Mal wieder gehört, bei einem anderen Todesfall. Sonst noch nie. Daraufhin kamen die anderen Pferde der Herde sofort alle gemeinsam von der Weide. Zunächst beschnüffelten sie das am Boden liegende tote Pferd, einige berührten es mit den Hufen. Sie stellten sich dann in eine Art Halbkreis rund um das tote Herdenmitglied und blieben regungslos mit hängenden Köpfen sicher 15 oder 20 Minuten dort. Die traurige Stimmung war greifbar und an den regungslosen, ausdruckslosen Gesichtern ablesbar. Diese Art Versammlung löste sich dann nach und nach auf, eines nach dem anderen ging zurück auf die Weide. Keines kam ein weiteres Mal direkt zu dem Toten zurück. Alle blieben allerdings die darauffolgenden Tage gedämpft in ihrem Verhalten, und die Herde als Ganzes rückte enger zusammen.

Wir danken für das Gespräch!

*) Trauer bezeichnet die natürliche Reaktion auf das Erleben eines Verlusts bzw. die Bewältigung einer Verlusterfahrung. In der Regel handelt es sich dabei um den Verlust einer Bezugsperson durch deren Tod, prinzipiell kommen aber auch andere Verlustobjekte in Betracht. […] Trauer ist ein mehrdimensionales Phänomen, das interindividuell und interkulturell große Unterschiede aufweist. (Quelle: Dorsch – Lexikon der Psychologie)

Marlitt Wendt

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© Cornelia Ranz

Die deutsche Verhaltensbiologin, ­Pferdetrainerin und Autorin versucht als „Botschafterin der Pferde“  mit ihren Büchern und Fachartikeln aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse für alle Pferdeliebhaber:innen zugänglich zu machen. Sie teilt ihr Wissen im gesamten deutschsprachigen Raum im Intensiv-Coaching vor Ort sowie in ­Seminaren. Daneben vermittelt sie die theoretischen Grundlagen der angewandten Ethologie (Verhaltensforschung) in Vorträgen oder online im persönlichen Austausch. 

instagram.com/marlitt_wendt

Marc Lubetzki

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© Marc Lubetzki

Der Tierfilmer und Buchautor Marc Lubetzki beobachtet und filmt seit fast zehn Jahren Wildpferdeherden in Deutschland, Großbritannien, Bosnien und Portugal. Während der Dreharbeiten wird er selbst Teil der Herde. In Seminaren, Vorträgen und Webinaren stellt der Deutsche seine Erfahrungen mit wildlebenden Pferden vor. Er zieht spannende Schlussfolgerungen, die für den Umgang mit unseren eigenen Pferden viele Erkenntnisse bringen und manche Missverständnisse ­ausräumen.

marc-lubetzki.de