Die Individualdistanz wird definiert als der geduldete Abstand zwischen Individuen – bei Menschen und Tieren. Pferde kennen die Grenzen ihres eigenen Schutzbereichs sehr genau. Sie lassen Störungen ihres persönlichen Raums nur in Maßen zu und kommunizieren Grenzüberschreitungen unmissverständlich, denn Selbstschutz ist ihr oberstes Ziel. Genau hier können wir viel von Pferden lernen: In die eigene Balance kommen, eine klare und deutliche (nonverbale) Sprache finden, Gespür für unsere eigenen Grenzen und die Grenzen anderer entwickeln. Das schätzen dann wiederum auch die Pferde an uns: Klarheit, Selbstfürsorge, Autonomie und Sicherheit sind Eigenschaften, die Pferde sogar ausdrücklich suchen und einfordern. Aus wirklich guten Gründen, wie sich zeigen wird!
1. Ein ehrliches Nein weckt Vertrauen
Gesunde Pferde sind üblicherweise ziemlich schmerzbefreit, wenn es darum geht, anderen Lebewesen ihre Grenzen aufzuzeigen. Sie sind nicht bereit, ein ehrliches Ja mittzuteilen, wenn sie ein Nein fühlen. Pferde streben nach Fairness, Achtung, Respekt und Partnerschaft – und wollen entsprechend behandelt werden. Wer ihre oder seine eigenen natürlichen, instinktiven Grenzen geflissentlich ignoriert oder sogar für eigene Zwecke ausnutzt, ein ehrliches Nein also nicht kommunizieren oder verstehen will oder kann, wird von ihnen schnell als rücksichtslos wahrgenommen. Und wer rücksichtslos handelt, ist nicht vertrauenswürdig.
2. Nur freiwilliges Geben ist sicher
Pferde verteidigen und kämpfen zwar um ihre Ressourcen, aber sie sind sich stets über die Wichtigkeit des Zusammenhalts der Gruppe gewahr. Als Opportunisten (im besten Wortsinn) sind sie auf ihren Vorteil bedacht, um ihren eigenen Zustand zu verbessern, aber mit Egoismus, wie wir ihn definieren, hat das nichts gemein. Sie kennen das Konzept von einem „Gegenwert“ für ihre „Dienste“ nicht. Wenn sie geben, dann nur aus freien Stücken. Respektlosigkeit oder überzogene Forderungen wissen sie üblicherweise gezielt zu maßregeln. Ihre oberste Absicht ist Schutz – für sich selbst und in diesem Sinne auch für alle anderen.
3. Genaues Wahrnehmen schützt vor Missbrauch
Sowohl zwischenmenschlich als auch zwischen Pferd und Mensch oder zwei Pferden entscheiden Beobachtung und Wahrnehmung des Gegenübers darüber, ob man verstanden wird und sich verstanden fühlt. Jedes Lebewesen möchte in seiner Individualität erfasst und gesehen werden. Geschieht dies nicht, dann entstehen zunächst kleinere oder größere Missverständnisse, die in der Folge nicht selten auf Grenzüberschreitungen hinauslaufen. Pferden sind auch absichtliche Manipulationen anderer völlig fremd, sie reagieren darauf instinktiv mit Abwehr, Flucht oder irgendwann mit einer erlernten Hilflosigkeit – und schützen sich selbst damit vor Missbrauch. Klar und deutlich zu kommunizieren und mit sehr offenen Augen und Ohren gut zu beobachten, worauf das Gegenüber aus ist, sorgt auch zwischen Menschen für diesen notwendigen Selbstschutz.
4. Wer Grenzen setzt, kann auch führen
Für Pferde ist es überlebensnotwendig, dass sie sich nur jenem Gegenüber anschließen, das vertrauenswürdig ist. Jemand, der schnell zustimmt, um seinen Frieden zu haben und Konflikten aus dem Weg geht, ist in keiner Weise vertrauenswürdig, denn er trifft in Extremsituationen aus Unsicherheit möglicherweise falsche Entscheidungen. Jemand, der keine Grenzen setzen kann, kann auch nicht führen. Und wer nicht führen kann, ist nicht fähig, Sicherheit und Fürsorge zu bieten. Sich sicher und umsorgt zu fühlen, ist aber genau das, was Pferde veranlasst, eine Bindung einzugehen. Dominanz ist allerdings keinesfalls die Antwort: Autoritätsgehabe, hinter dem Unsicherheit und Kontrollansprüche stehen, verhindert eine vertrauensvolle Bindung.
5. Alarmsignale lassen sich nicht verstecken
Tatsächlich nehmen wir alle wahr, wenn unsere Grenzen verletzt wurden oder wir die eines anderen überschritten haben. Unser zentrales Nervensystem schlägt Alarm, und es belügt uns nie. Als von Natur aus feinfühlige Wesen bekommen Pferde all diese Alarmsignale mit. Es gibt mittlerweile sogar etliche Studien, die belegen, dass Pferde kleinste körperliche Veränderungen ihres Gegenübers, die dieses selbst erst später bewusst bemerkt, wahrnehmen und nicht nicht darauf reagieren können. Alles, was wir denken, fühlen und letztlich mehr oder weniger umsetzen, bekommen die Tiere mit, weil unser Körper nicht betrügen kann. Es spielt also keine Rolle, welches „Programm“ wir fahren, Pferde erkennen immer die Wahrheit.
Nähe und Distanz als Kommunikationsmittel
Ein grenzüberschreitendes Pferd, das den Individualraum des Menschen nicht respektiert, zeigt an, dass dieser selbst nicht ausreichend Grenzen zieht und diese verwischt oder sogar widersprüchlich sind. Ein Pferd, das sich nicht freiwillig anschließen möchte und die Tendenz hat, sich viel Raum zu erstreiten oder sogar wegzurennen, teilt deutlich mit, dass es unter den gegebenen Umständen keinen Wert auf Nähe legt. Der betroffene Mensch ist aufgefordert, sich mit seinem eigenen Nähe-Distanz-Verhältnis auseinanderzusetzen. Was erwartet das Pferd denn, wenn es sich einlässt? Wird sein Raum sofort noch weiter verengt? Wird es gesehen und gehört? Darf es sich ausdrücken? Ist ein Loslösen wieder gestattet oder wird dieses impulsartig unterbunden? Rückzug und Annäherung sind natürliche Kommunikationsstrategien von Pferden, die wohl die größte Aussagekraft in Bezug auf die Beziehung untereinander und auch zum Menschen haben. In kaum einem anderen Bewegungsverhalten ist mehr Klarheit und Beziehungsstatus verborgen – und damit auch abzulesen.
6. Pferde fordern Offenheit
Ihre Wahrnehmung können Pferde nicht verbergen. Entsprechend kann den direkten Reaktionen und dem Verhalten eines Pferdes immer geglaubt werden. Das Feedback eines Pferdes ist, auch wenn es sich so anfühlen kann, nie eine Beleidigung, sondern eine Chance. Ein bisschen über den eigenen Schatten zu springen, die Erwartungen anderer auszublenden und sich mehr auf die eigene Intuition zu verlassen, sind erfahrungsgemäß sinnvolle Methoden, um sich und seinem Pferd mehr Raum zu geben. Eine negative Grundstimmung, in der es vor allem um Fehlerverfolgung geht und die das Pferd als spezifisches Individuum mit seinen Erfahrungswerten, speziellen Eigenschaften, (ungewollten) Talenten und Wünschen missachtet, erlaubt kaum eine positive Entwicklung.
7. Grenzen eröffnen neue Perspektiven
Wir Menschen haben die Tendenz, Grenzen als etwas Schlechtes, Verwerfliches oder Unverschämtes abzutun. Durch das teils vehemente Setzen von Grenzen, das bei Pferden in vielen Variationen auftritt, ergeben sich allerdings etliche Perspektiven und Vorteile. Das unerwünschte Verhalten eines Pferdes zeigt überraschend häufig, wo der Mensch selbst einen Mangel, einen Widerstand oder eine Blockade lebt. Wird der eigene Anteil an dem Konflikt ausgeblendet, so wird er sich zwangsläufig verstärken, weil sich die Fronten verhärten. Pferde wissen längst, was wir oft noch lernen müssen: Wer nicht zuhören will, tut es auch nicht, wenn er angebrüllt wird. Und wer verstehen will, tut es auch, wenn gar nicht gesprochen wird. So heißt es manchmal, Grenzen aufzulösen, sie loszulassen, um wieder Weichheit, Sanftheit, Besonnenheit und Frieden zulassen zu können.
8. Bei sich zu bleiben ermöglicht Wachstum
Wer in einer (sozialen) Umgebung lebt, in der ständig Erwartungen und Vorschriften zu erfüllen sind, weil ansonsten Konsequenzen wie Ablehnung, Missbilligung und Herabsetzung drohen, überträgt diese Denkweise unbewusst auch auf andere. Das Prestigeobjekt Pferd wird dann leider oft zur Projektionsfläche, um (meist unnötige) Rivalitäten, Missgunst und Unsicherheiten auszuleben. Im Sinne der Selbstfürsorge – und im Sinne der Fürsorge für unsere Pferde – sollten wir uns bemühen, unseren Fokus aber ganz besonders im Reitstall auf uns selbst und unsere eigene Entwicklung gerichtet zu halten. Genau diese Einstellung und die entsprechende Verhaltensanpassung spüren Pferde. Die Aufgabe ist, ein klares Nein zu allem, das schadet, zu kommunizieren, und dabei authentisch, offen für Neues und ehrlich zu sich selbst zu bleiben – ganz so, wie die Pferde es auch handhaben.
9. Klare Ansagen sind die besten
Jedes Individuum muss im Laufe seiner Entwicklung lernen, für sich selbst einzustehen. Autonomie mit all ihren Konsequenzen ist entscheidend, um ein eigenverantwortliches Leben zu führen. Dazu gehört nicht nur, seine eigenen Grenzen zu kennen, sondern auch, sie unmissverständlich auszudrücken (verbal und nonverbal), statt sich auf darauf zu verlassen, dass andere sie richtig interpretieren. Pferde reagieren auf Widersprüche im menschlichen Ausdrucksverhalten z. B. mit Fluchtreaktionen, weil die Ansagen nicht nur unverständlich, sondern sogar doppeldeutig sind. Es liegt nicht in ihrer Natur, in Grauzonen zu denken oder darüber zu grübeln, was der Mensch möglicherweise gemeint haben könnte. Auch sind sie weder gewillt noch fähig, differenzierte Schlüsse zu ziehen oder Gedankenkreisläufe ihres Reiters zu berücksichtigen. So hat ein vermeintliches Fehlverhalten des Pferdes mitunter seinen Ursprung im Fehlverhalten des Menschen. Fehlerverfolgung macht hier aber wenig Sinn – weder bei sich selbst noch beim Pferd. Vielmehr bietet es sich an, ein Bewusstsein für die eigenen Kommunikationsstrategien zu entwickeln, diese zu hinterfragen und anzupassen. Auf diese Weise folgen auch die korrekten Antworten auf die gestellten Fragen – gepaart mit einer gehörigen Portion Vertrauen, weil es sich aus Sicht des Pferdes lohnt.
10. Wer nicht handelt, wird behandelt!
Letztlich dürfen (und sollten) wir alle selbst bestimmen, wie wir behandelt werden wollen. Dafür bedarf es aktiver Grenzziehung: Nur wer handelt, kann Veränderungen erzielen und damit Erfolge verbuchen. Fehler sind dabei das kleinste Problem. Die können korrigiert werden, denn aus ihnen wird mit einer gesunden Einstellung gelernt. Fehler zu vermeiden, ist sicher vernünftig, aber mit ihnen umgehen zu lernen, ist vernünftiger. Wir Reiter:innen haben anderen Menschen gegenüber in diesem Lernprozess einen enorm großen Vorteil, eine unbezahlbare Ressource, die sich aus eigenem Antrieb einbringt: unsere Pferde. Sie sehen uns jede Unvollständigkeit oder Mangelhaftigkeit nach, wenn wir bereitwillig an uns arbeiten möchten.