Eigentlich ist Cooper eine Seele von einem Pferd. Der großgewachsene Hannoveraner ist brav im Umgang, hat ein angenehmes Temperament, ist ungemein rittig und mit drei guten, elastischen Grundgangarten ausgestattet. Für Dressurreiterin Katharina eigentlich ein Lotto-Hauptgewinn. Wäre da nicht diese eine Sache. Alle sechs Wochen, wenn wieder ein Beschlagstermin ins Haus steht, mutiert Cooper zur Furie. Nur unter größter Gegenwehr lässt er die Hinterbeine aufnehmen, gelingt es irgendwann, reißt er sie mit ganzer Kraft wieder weg. Bei seinen Eskapaden hat der Wallach nicht erst einen Strick zerrissen. Nur der Engelsgeduld des Hufschmiedes ist es zu verdanken, dass Cooper trotz seines Theaters am Ende mit gepflegten Hufen und einem ordentlichen Beschlag dasteht. Dafür sind Pferd, Reiterin und Schmied jedes Mal kräftemäßig und nervlich am Ende. Probleme wie diese kennt Hobbyreiterin Nadine nicht. Ihr bereiten dafür ganz andere Dinge Sorgen. Ständig entdeckt sie an ihrer Traberstute Fleur eine neue Blessur. Meist sind es oberflächliche Abschürfungen an den Beinen, den Hüften oder am Kopf. Im Grunde nichts Tragisches. Zumindest bis neulich. Da musste Fleur nach einer bösen Verletzung oberhalb des Auges geklammert werden. Pferd und Besitzerin hatten Glück, das Auge selbst blieb heil. Ein Zentimeter weiter unten – und es hätte vielleicht nicht gerettet werden können.
Ein Problem, viele Gesichter
So unterschiedlich Coopers und Fleurs Probleme auf den ersten Blick scheinen, ist ihr Ursprung doch derselbe: Beide Pferde haben ein schlechtes Gefühl für ihren eigenen Körper. Tast- und Berührungssinn, Gleichgewichtssinn, die Tiefenwahrnehmung – sie alle werden bei einem Bewegungstier wie dem Pferd meist als naturgegeben angesehen. Die Praxis zeigt jedoch, dass es in diesem Bereich immer häufiger Probleme gibt. „Pferde sind tagtäglich einer Flut an unterschiedlichen Umweltreizen ausgesetzt. Sie verfügen über ein ausgeklügeltes Sinnessystem, das ihnen ermöglicht, diese Reize wahrzunehmen, zu bewerten und entsprechend zu handeln“, sagt Ruth Katzenberger- Schmelcher, Pferdetrainerin aus Burgheim in Bayern. „Alle Informationen, die über die drei wesentlichen Sinnessysteme aufgenommen werden, werden über das Nervensystem ans Gehirn weitergeleitet, verarbeitet und gedeutet, sodass Pferde in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise handeln. Nun funktioniert diese Wahrnehmungsverarbeitung aber nicht bei jedem Pferd gleich gut.“
Das Problem: Werden Reize nicht adäquat verarbeitet, nimmt das Pferd sie entweder zu stark wahr – oder aber auch zu wenig. Die Folge kann einerseits eine völlig unverhältnismäßige Reaktion in einer augenscheinlich harmlosen Situation sein, etwa, wenn das Pferd bei der Berührung mit der Putzbürste energisch mit dem Hinterbein aufstampft, beim Einsprühen mit dem Fliegenspray panisch reagiert oder beim Anziehen des Sattelgurtes nach hinten beißt. Im gegenteiligen Fall bemerken Pferdebesitzer:innen bei ihrem Vierbeiner häufiges Stolpern, Schwierigkeiten bei wechselnden Bodenbeschaffenheiten oder gehäuftes Anstoßen im Auslauf oder in der Box. Dass sich das Pferd in all diesen Fällen einfach nicht richtig spürt, erkennen die wenigsten. Im Gegenteil: „Die Verhaltensweisen, die das Pferd aufgrund einer mangelhaften Körperwahrnehmung zeigt, werden vom Pferdebesitzer viel zu oft als Unart, Unmut oder Faulheit missverstanden“, weiß Katzenberger-Schmelcher aus der Praxis.
Menschgemachte Reizarmut
Dabei ist die Ursache für ein unzureichendes Körpergefühl in vielen Fällen menschgemacht. In seiner natürlichen Umgebung ist das Pferd rund 16 Stunden mit der Nahrungssuche beschäftigt. Dabei bewegt es sich in langsamem Tempo stetig über verschiedene Untergründe und Bodenbeschaffenheiten voran, es ist unterschiedlichsten Klimareizen ausgesetzt, es spürt die Hitze, die Kälte, Wind und Wetter auf seiner Haut, muss sich bei hellem Sonnenschein ebenso zurechtfinden wie im Dämmerlicht oder in finsterer Nacht. Seine Herdenkollegen hat es dabei stets im Blick, um jederzeit adäquat reagieren zu können. Die Sinne sind geschärft, reagiert es zu langsam, kann das bei einem herannahenden Raubtier schnell sein Ende bedeuten. Wie anders sieht der Tagesablauf eines domestizierten Pferdes im Vergleich dazu aus! Hier wird das Futter nicht gesucht, sondern vorgelegt, entweder in der Box oder im Offenstall in der Raufe. Langsame, kontinuierliche Fortbewegung bei der Futtersuche? Fehlanzeige! In seiner Umgebung muss sich das Pferd meist nur wenig bewegen, um alles zu finden, was es braucht. Wasser, Futter, ein Schlafplatz: Alles ist innerhalb weniger Schritte erreichbar – wenn sich das Pferd denn dazu überhaupt bewegen muss bzw. kann. Das gilt freilich ganz besonders für die Box, aber auch im Offenstall herrscht in vielen Fällen chronische Bewegungsnot.
Der Mangel an Reizen beschränkt sich nicht nur auf die Haltung, er setzt sich oft auch noch im Training fort. Geritten und trainiert wird in der Reithalle, auf dem Reitplatz auf guten, ebenen, trittfesten Böden und in ruhiger Umgebung: optimale Voraussetzungen, damit Pferde schneller zur Losgelassenheit finden und sich besser konzentrieren können. Als Kehrseite der Medaille beeinträchtigt der reizarme Alltag die Wahrnehmungsverarbeitung des Pferdes zunehmend.
Ergotherapie für Pferde*
Doch wie kommt das Gefühl zurück in den Pferdekörper? Für Ruth Katzenberger-Schmelcher und ihre Schwester Yvonne Katzenberger liegt der Schlüssel zur guten Körperwahrnehmung in der Ergotherapie. Seit 16 Jahren arbeitet Yvonne Katzenberger als selbstständige Ergotherapeutin. Dabei ist sie tagtäglich mit Menschen konfrontiert, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von einer Einschränkung bedroht sind. Durch spezifische Aktivitäten lernen sie, wie sie ihren Alltag besser bewältigen. Weil Yvonne Katzenberger zugleich auch Reittherapeutin ist, kam irgendwann die Idee auf, dass auch Pferde von der Ergotherapie profitieren könnten. „Unsere eigenen Pferde werden vielfältig eingesetzt – unter anderem in der Reittherapie. Gerade im Zusammenspiel mit Klienten, insbesondere mit Kindern, die einen Förderungsbedarf haben, ist es für die Pferde besonders wichtig, dass sie über eine gute Körperwahrnehmung verfügen“, sagt Ruth Katzenberger-Schmelcher. „Also haben wir uns gefragt, wie wir unsere Pferde am besten unterstützen können, so dass sie ihre Aufgaben gut meistern können, und inwiefern sich Konzepte und Prinzipien aus der Humanergotherapie auf das Pferd übertragen lassen.“
Erste Alarmzeichen
Folgende Auffälligkeiten und Probleme können auf eine gestörte Körperwahrnehmung hinweisen:
- Das Pferd hat häufig kleinere oberflächliche Verletzungen der Haut, weil es sich an Wänden, Futterraufen etc. stößt.
- Es hat Probleme beim Bedienen von automatischen Tränkebecken.
- Das Pferd zeigt Abwehrverhalten beim Putzen oder Gurten.
- Es lässt sich ungern eindecken.
- Unterschiedliche Bodenbeläge machen das Pferd sichtlich nervös.
- Das Pferd stößt häufig mit den Hufen an Stangen, die es übertreten soll, an.
- Es gibt Probleme beim Verladen.
- Das Pferd erhöht oder verlangsamt beim Longieren das Tempo unverhältnismäßig.
- Das Pferd bleibt beim Aufsteigen nicht stehen.
- Es kann mit dem/der Reiter*in auf dem Rücken nicht richtig einspuren.
- Seitengänge fallen dem Pferd offenkundig schwer, es hat Probleme, sich zu koordinieren.
- Das Pferd hat Schwierigkeiten beim Hufe-Geben, es zieht die Hufe bei deren Bearbeitung immer wieder energisch weg.
- Das Pferd entzieht sich beim Fiebermessen.
Spüren lernen
Basierend auf ihrem Wissen aus dem Humanbereich entwickelten die Schwestern Übungen für Pferde, die sie erst an ihren eigenen Tieren ausprobierten – und die sie, weil sich bald erste Erfolge zeigten, in Folge auch für fremde Pferde anboten. „Unsere Übungen sind darauf ausgerichtet, gezielt die Basissinne zu schulen, d. h. das taktile System (Oberflächensensibilität), das propriozeptive System (Tiefensensibilität) und das vestibuläre System (Gleichgewichtssinn). Darüber hinaus gehen wir ganz spezifisch vor, indem wir – je nach individuellem Fall – nach bestimmten Kriterien ein ganz konkretes Therapieziel formulieren und den Therapieerfolg ständig evaluieren und das Therapieziel gegebenenfalls anpassen. Es geht also nicht um intuitives Training, sondern um Übungen, deren Auswirkungen ständig überprüft werden“, so Ruth Katzenberger-Schmelcher.
Im Fokus der equinen Ergotherapie stehen neben den Pferden auch deren Besitzer:innen. Das Therapieziel orientiert sich maßgeblich am zugehörigen Menschen, wie Katzenberger-Schmelcher erklärt: „Was möchte der Pferdebesitzer mit seinem Pferd erreichen? Wie viel Zeit steht ihm dafür zur Verfügung? Hat er spezielle Vorlieben?“ Auf Basis der Antworten erstellen Pferde-Ergotherapeut: innen individuelle Übungspläne, die der/die Pferdebesitzer:in dann als Hausaufgabe bekommt. Eine weitere wichtige Säule des Konzepts ist die allgemeine Verbesserung der Lebensqualität des Pferdes. „Das Pferd verbringt den Großteil seines Lebens ohne seinen Besitzer im Stall. Egal, ob Paddockbox oder Paddock-Trail: Es gibt überall Möglichkeiten, die Haltungsform so zu optimieren, dass das Pferd quasi seine Basissinne selbst trainiert.“
Das Konzept von Yvonne und Ruth Katzenberger hat sich inzwischen so gut bewährt, dass es neben einschlägigen Seminaren und zwei Büchern mit PFERGO nun sogar die erste Akademie für Pferdeergotherapie entstanden ist. Der große Vorteil des Programms: Viele Übungen lassen sich problemlos von Laien durchführen und sind ohne große Umstände im Alltag mit dem Pferd umsetzbar. Manchmal ist aber auch Unterstützung vom Profi vonnöten. Nämlich dann, wenn es selbst kein Weiterkommen gibt „oder das Verhalten des Pferdes extrem in dem Sinne wird, dass es das Miteinander zwischen Mensch und Pferd maßgeblich beeinflusst“, so Ruth Katzenberger-Schmelcher. An einen solchen Extremfall erinnert sich die Therapeutin besonders gut. „Das betroffene Pferd zeigte massive Abwehrreaktionen beim täglichen Putzen. Kaum kam der Besitzer mit der Putzbox um die Ecke, fing das Pferd an, mit einem Bein auf den Boden zu stampfen, zu drohen und letztlich auch nach dem Besitzer zu beißen – und zwar richtig! Der Besitzer konnte irgendwann das Pferd schon gar nicht mehr zum Putzplatz führen“, erzählt Katzenberger-Schmelcher. Hilfe brachte eine gezielte ergotherapeutische Behandlung, die zusammen mit dem Besitzer konsequent umgesetzt wurde. „Danach war das Pferd nicht nur beim Putzen entspannt, sondern hatte auch eine verbesserte Bewegungsqualität unter dem Reiter. Und das Wichtigste: Der Pferdebesitzer freute sich wieder auf die gemeinsame Zeit mit seinem Pferd.“
Genau das, nämlich die Verbesserung der Lebens- und Beziehungsqualität von Pferd und Reiter:in seien letztlich das Ziel der equinen Ergotherapie. „Ein Pferd mit einem guten Körpergefühl ist ein sicherer Freizeitpartner – in allen Lebenslagen. Die Pferde sind gelassen, in Balance und gut koordiniert.“ Und erfüllen damit all das, was man als Pferdebesitzer:in gerne hätte, um gemeinsam eine schöne Zeit zu verbringen.
Buchtipps
Mehr Körpergefühl für mein Pferd - Ergotherapie im Pferdetraining
von Ruth Katzenberger-Schmelcher und Yvonne Katzenberger
Im Buch finden sich zahlreiche Übungsideen für die Pferdeergotherapie – auf diese Weise kann das Gelernte direkt in die Praxis umgesetzt werden. Dabei wird jede Übung ausführlich und übersichtlich beschrieben: Man erfährt, für welche Problemstellungen die Übung besonders geeignet ist, welches Equipment benötigt wird und wie das eigene Pferd konkret davon profitiert. Zudem werden den Leser:innen Tipps geboten, wie Alltagsgegenstände clever zu Equipment umfunktioniert werden können.
Infos: 128 Seiten, 28,80 Euro, erschienen bei www.kosmos.de
Ergotherapie für Pferde - Basissinne schulen, Koordination und Wahrnehmung verbessern
von Ruth Katzenberger-Schmelcher und Yvonne Katzenberger
Eine besondere Hilfestellung für alle, die mit verhaltensauffälligen Pferden arbeiten oder diese zielführend trainieren möchten. Praxisbetont und sehr anschaulich liefern die Autorinnen individuelle Lösungen, passgenaue Methoden und konkrete Übungen, damit Pferde ausgeglichen und sicher werden. Mit zahlreichen Übungen, Schritt-für-Schritt-Anleitungen, Tipps und Fallbeispielen – klar gegliedert, leicht verständlich und mit konkreten Handlungsempfehlungen für sichtbare Trainingserfolge.'
Infos: 240 Seiten, 51,40 Euro, erschienen bei www.thieme.de