Es ist nichts Neues: Das Pferd ist ein Herdentier. Für Pferde ist die Anwesenheit von Artgenossen ein zentraler Wohlfühlfaktor. Während ein Pferd allein zu halten schlicht tierschutzwidrig ist, sehen wir es als selbstverständlich an, es alleine zu reiten, spazieren zu führen oder zu transportieren. Ein gutes Reitpferd soll sich anstandslos außer Sichtweite seiner Freunde begeben können, dabei ruhig bleiben und seine Aufmerksamkeit seinem Menschen widmen. Aber nicht alle Pferde spielen mit: Von herzzerreißendem Gewieher über kopflose Panik bis zu gefährlichen Aggressionen reicht das Spektrum der Unmutsbekundungen. Die Besitzer:innen sind oft ratlos: Was tun? Den „Kleber“ einfach abrupt und dauerhaft vom Objekt seiner Begierde trennen? Geduldig am Alleinbleiben feilen und wiederkehrende Rückschläge in Kauf nehmen? Oder lieber jede Trennungssituation von vorneherein umgehen?
Alleinsein muss Pferd lernen
„Zuallererst muss klar sein: Es ist ein absolut natürliches, instinktives, jedem Pferd angeborenes Verhalten, dass es bei seiner Herde bleiben will“, betont Pferdetrainerin Andrea Kutsch. „Trennungsangst war evolutionär ein großer Vorteil für das Pferd, es hat also eine dementsprechende neurologische Grundausstattung entwickelt. Dafür muss man Verständnis haben.“ Ein klebendes Pferd für sein Verhalten zu bestrafen oder es als respektlos, unwillig, ungezogen oder arbeitsfaul zu sehen, ist also grundfalsch. Die emotionalen Ausbrüche bei diesen Pferden liegen nicht an einer Verhaltensstörung, weder an fehlendem Vertrauen zu ihren Menschen noch an einem schlechten Charakter. Viel mehr fehlt ihnen eine grundlegende Lernerfahrung, die jedes Hauspferd machen sollte. „Ich muss dem Pferd beibringen, dass Trennung von Artgenossen ungefährlich ist“, weiß Andrea Kutsch. „Das Bewusstsein beim Menschen, dass das Alleinsein etwas ist, was ein Pferd aktiv lernen muss, ist die Grundvoraussetzung. Dann hört nämlich der Kampf auf, und all die Interpretationen wie ‚Der will nur nicht arbeiten‘ oder ‚Der hat keine Lust‘ werden unnötig. So denkt das Pferd nicht. Es versucht nur, sicherzustellen, dass es keine Angst haben muss. Seine Natur sagt ihm: Wenn du bei deiner Herde bleibst, musst du keine Angst haben. Aber es kann auch lernen: Wenn ich alleine bin, muss ich keine Angst haben.“
Trennungsangst richtig interpretieren
Nicht jedes Pferd allerdings lernt das gleichermaßen leicht. Stuten tun sich oft grundsätzlich schwerer als männliche Pferde. Der Grund liegt, auch hier, in der Natur: Wildlebende Stuten trennen sich kaum aus freien Stücken von ihrer Herde, ihre soziale Bindung an Freundinnen und weibliche Familienmitglieder ist enger als jene unter Hengsten und Wallachen. Letztere bewegen sich auch in Freiheit hin und wieder von ihrer Herde weg, um die Gegend zu erkunden oder Kontakt zu anderen Herden aufzunehmen. Unsere männlichen Reitpferde haben daher oft von Grund auf weniger Probleme damit, außer Sichtweite anderer Pferde zu sein.
Oft wird auch vermutet, dass eine Trennungsangst ihren Ursprung in der prägenden Phase des Absetzens nimmt. Wird das Fohlen zu früh oder ohne soziales „Sicherheitsnetz“ in Form bekannter Artgenossen von seiner Mutter getrennt, macht es eine traumatische Trennungserfahrung. Daraus entwickeln sich unter Umständen Verlustängste, die es das ganze Leben lang begleiten können. Ein korrektes Absetzen allerdings führe nicht zu einer Trennungsproblematik, ist Andrea Kutsch überzeugt. Viel öfter liege die Wurzel des Problems bei klebenden Pferden in Trainingsfehlern: „Was meistens passiert, ist das: Jemand versucht, das Pferd alleine von den anderen wegzuführen, das Pferd bekommt Angst. Im Körper steigt der Cortisolspiegel an. Es drückt seine Angst aus, indem es sich widersetzt, steigt, herumläuft, und umso stärker es das tut, umso schneller wird es zurück zu seinen Artgenossen geführt. Dort beruhigt es sich wieder, der Cortisolspiegel sinkt. Und schon hat es erlebt, wie es möglichst schnell wieder in einen angstfreien Zustand kommt. Jedes Mal, wenn das funktioniert, bestätigt sich fürs Pferd, dass sein Kampfverhalten erfolgreich gegen seine Angst ist. Hier gilt es zu verstehen, dass diese Widersetzlichkeit, die wir als große Trennungsangst interpretieren, eigentlich die erlernte Lösungsstrategie des Pferdes ist, um seine Angst vorm Alleinsein zu vermeiden.“
Komfortzone nutzen
Lautet die Lösung unsererseits also: „Damit darf der nicht durchkommen?“. Nein, ganz im Gegenteil, sagt die Pferdetrainerin, und hält Besitzer:innen solch schwieriger Pferde dazu an, unbedingt auf ihr Gefühl zu hören. „Sobald ich spüre, dass die Situation gefährlich wird, sobald ich in Angst gerate, kann ich davon ausgehen, dass mein Pferd schon längst in Angst ist. Und Angst ist immer Gift, denn die Stresshormone Cortisol und Adrenalin blockieren die Lernfähigkeit. Damit habe ich als Trainer:in keine Kontrolle mehr darüber, was mein Pferd lernt, und ein unerwünschtes Verhalten kann sich unter Umständen viel leichter etablieren.“ Widersetzt sich das klebende Pferd einmal vehement gegen das Wegführen von der Herde oder auch gegen das Zurückgelassen-Werden im Stall, sollte man die eskalierende Situation daher möglichst sofort auflösen und keine weiteren Ansprüche stellen. „Wenn ich zum Beispiel beim Holen von der Koppel nach ein paar Metern schon merke, mein Pferd hat Stress, es beginnt sich zu versteifen, dann breche ich ab. Dann muss ich selbstreflektiert genug sein, um die Überforderung zu erkennen, neu zu beginnen und das nächste Mal smarter vorzugehen. Nie die schon einmal eskalierte Situation noch einmal herbeiführen!“
Statt also immer wieder den Auslöser zu betätigen, versucht man besser, sich langsam an die Grenze dessen heranzutasten, was für das Pferd noch angstfrei möglich ist. „Ein Beispiel: Ich kann mein Pferd zehn Meter weit problemlos von der Herde wegführen. Dabei bemerke ich, dass seine Maulwinkel fest werden, die Atmung wird flacher, es wird steifer: Das Nervensystem schlägt Alarm. Es ist besorgt, aber noch nicht in der Angst – es kann noch bewusst lernen. Dann drehe ich also um, führe es zurück zur Herde, und die Anzeichen der Besorgnis verschwinden. Dieses Procedere wiederhole ich einige Male, gehe aber nie so weit von der Herde weg, dass es in Angst geraten könnte. Nach ein paar Mal hat das Pferd gelernt, dass der Alarm unnötig ist“, beschreibt Kutsch die Vorgangsweise nach der von ihr entwickelten EBEC-Methode (Evidence Based Equine Communication).
Rückschlage führen vorwärts!
Nach ein paar Übungseinheiten ist das Problem Kleben in den gewohnten Alltagssituationen so vielleicht bereits gelöst. Aber wehe, da steht plötzlich ein neuer Hänger am Parkplatz neben der Koppel oder einer der Weidekumpanen ist heute im Stall geblieben – dann sieht die Welt auf einmal ganz anders aus, und das alte Muster tritt wieder zu Tage. Was tun bei solchen Rückschlägen? Zuerst ist eine detaillierte Analyse der Situation nötig. „Es kann schon ein einziger neuer Reiz ausreichen, dass das Pferd das Gelernte wieder in Frage stellt“, bestätigt die Pferdetrainerin. Dann gelte es, diesen einen neuen Reiz zu erkennen und ihn aufzulösen, indem dieselbe Vorgangsweise wie in der ersten Trainingssituation wiederholt wird. „Irgendwann tauchen dann keine unbekannten Reize mehr auf, beziehungsweise sind die Pferde dann so desensibilisiert auf neue Reize, dass sie keinen Auslöser für die Angst mehr darstellen. Sie haben dann nämlich etwas ganz Großes gelernt: Dass sie selbst das Problem lösen können!“ Diese Problemlösekompetenz ist es, die die Pferde dann auf Dauer innerlich wachsen lässt und selbstsicherer macht. Nicht nur beim Alleinbleiben macht sich das bezahlt. Ob beim Schmied, bei der Tierärztin, beim Verladen oder am Turnier: Pferde, die gelernt haben, dass sie keine Angst vor neuen Reizen haben müssen, weil sie immer wieder (eigenständig) in ihre Komfortzone zurückfinden können, sind verlässliche Partner. Andrea Kutsch ist begeistert, wie kreativ und intelligent die Pferde dadurch zu handeln lernen: „Sie kommen dann selbst auf die Idee, wie sie eine schwierige Situation auflösen können. Zum Beispiel beim Beschlagen: Das Pferd will den Huf nicht geben und zappelt, die Situation ist unangenehm. Es hat aber schon gelernt, dass es gestreichelt wird und sich wohlfühlen kann, wenn es auf die Bitte eines Menschen ruhig reagiert. Dann kommt es auf die Idee, in dieser neuen Situation den Huf zu heben und ruhig zu stehen, denn vielleicht führt ja auch das zu einer Entspannung.“
Weniger Druck als wir glauben
Pferden zu dieser Intelligenz zu verhelfen, das sei das große Ziel, meint die Pferdetrainerin. Und zwar nicht nur gegen Trennungsangst. Stärke man jene neuronalen Strukturen, die Lernen und selbstständiges Problemlösen ermöglichen, sei es am Ende egal, ob das Pferd auf eine unpassende Distanz in einem Parcours stoße oder auf eine bedrohliche Autobahnbrücke beim Ausreiten: Es wisse seine eigenen Fähigkeiten zu nutzen. Die Kunst für uns Pferdeleute ist die, den goldenen Mittelweg zu finden, der am Rande der Komfortzone des Pferdes in den Bereich größter Lernfähigkeit führt, und dort genau diese Nervenstrukturen anspricht. Ganz ohne neuronalen Alarm geht es nämlich auch nicht, denn dann ist der Anreiz zum Lernen nicht gegeben. „Es brauch dabei aber viel weniger Stress und Druck, als wir glauben“, sagt Andrea Kutsch. „Wir müssen noch viel, viel sanfter werden. Es braucht überhaupt keine Aufregung oder Angst. Wir müssen es ‚nur‘ schaffen, die Intelligenz unserer Pferde zu aktivieren – die unterschätzen wir nämlich unglaublich.“
Die Expertin
Andrea Kutsch ist international bekannte Pferdetrainerin sowie Fachbuchautorin und beschäftigt sich auf wissenschaftlicher Basis mit dem Verhalten, dem Training und der Kommunikation mit Pferden. Davon ausgehend entwickelte sie die pferdezentrische Methode EBEC® (Evidence Based Equine Communication), die sie auch in Lehrgängen und Seminaren vermittelt. Zuletzt erschien 2022 ihr Buch „Neue Perspektiven im Pferdetraining“ im Cadmos-Verlag, in dem sie sich unter anderem mit Pferden mit Trennungsangst auseinandersetzt.