Abschied

Der Maestro ist tot: Jockey-Legende Lester Piggott gestorben

Ein Artikel von Ernst Kopica | PS | 31.05.2022 - 12:07
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Lester Piggott war ein Mann der Gegensätze. Bis heute führt er die ewige Bestenliste der erfolgreichsten Jockeys mit 59 Siegen in klassischen Rennen in Europa an. © IMAGO/Action Plus

Der „Maestro",  wie ihn seine Bewunderer nannten, war stets ein Mann der Gegensätze: bei seinen Berufskollegen unbeliebt, schwierig im Umgang, vorbestraft wegen Steuerhinterziehung, seines Adelstitels beraubt!

Begonnen hat die erstaunliche Karriere Piggotts, der über ein „Renn-Pedigree" nobelster Abstammung verfügt (sein Vater Keith war Hindernis-Jockey, seine übrigen Verwandten ritten die Sieger in nicht weniger als 63 klassischen Rennen), im Jahr 1948 mit einem Bilderbuchstart: Lester gewann bereits zwölfjährig mit The Chase in Haydock sein erstes Rennen — und war aufgrund seines zarten Alters sofort Mittelpunkt des Interesses von Journalisten und Fotografen — ein Schicksal, das ihn bis zu seinem Karriereende 1995 begleiten sollte.

1954 triumphierte er erstmals im Epsom-Derby mit dem 33:1-Außenseiter Never Say Die, 1960 holte er sich das erste von insgesamt elf Jockeychampionaten, im Lauf seiner Karriere feierte er mehr als 5.000 Siege (davon 20 in Hindernissrennen). In seiner Heimat war er ein Liebling der Hausfrauen, die stets gerne auf ihn setzten: Allein die Tatsache, dass er im Sattel eines Pferdes sitzt, genügte bereits für dessen Favoritenrolle.

Weit weniger angetan von ihm waren die Rennleitungen, die ihn des Öfteren wegen Rücksichtslosigkeit suspendierten. Auch bei seinen Kollegen und den Besitzern war der eigenwillige, seit seiner Geburt schwerhörige und daher auch einsilbige Brite, der bei 1,73 m Größe stets mit Gewichtsproblemen kämpfte, nie sonderlich beliebt. So verbot ihm der französische Kunsthändler Daniel Wildernstein nach einem verunglückten Ritt, je wieder ein Pferd von ihm zu besteigen. Wildernstein drohte dies seinen Jockeys zwar immer wieder an, bei Piggott blieb er aber konsequent.

Wie stark Piggotts Siegeswille war, mussten seine Gegner oft am eigenen Leib erfahren: Im berühmten Grand Prix de Deauville im Jahr 1979 „borgte" er sich im Finish ganz einfach die Peitsche von Alain Lequeux aus, weil er die eigene verloren hatte. Die Stewards zeigten keinerlei Verständnis für derartige Scherze und sperrten ihn für drei Wochen, wodurch er seinen Ritt im St. Leger abgeben musste. Ironie des Schicksals: Lequeux gewann dieses Rennen mit Son of Loye, die ominöse Peitsche wurde um 8.400 Pfund für wohltätige Zwecke versteigert.

1985 hängte Piggott seine Reitstiefel an den Nagel und versuchte sich im Trainer-Business. Zwei Jahre später kam es zum schmerzhaftesten Sturz in seiner Karriere: Steuerschulden in der Höhe von umgerechnet knapp 3 Millionen Euro brachten ihn vor den Richter. Das Urteil: Nachzahlung aller Rückstände beim Finanzamt, eine zusätzliche Strafe von rund 70.000 Euro und Freiheitsentzug auf drei Jahre. Von der englischen Königin wurde ihm der zuvor verliehene Titel „Sir" wieder aberkannt. Die Hälfte der Strafe musste Piggott absitzen.

Wieder in Freiheit kehrte er in den Rennsattel zurück: Zunächst bei Wohltätigkeitsrennen in Südamerika und England, 1990 erhielt er wieder eine gültige Jockeylizenz. In Frankreich schuf man sogar eine eigene „Lex Piggott", da üblicherweise die Altersgrenze für Reiter bei 50 Jahren liegt. Bereits am zweiten Tag seiner zweiten Karriere feierte er in Chepstow mit einem von seiner Gattin Susan trainierten Pferd den ersten Sieg. Auch bei Großereignissen trumpfte der Altmeister wieder auf: Im Breeder's Cup 1990 brachte er Royal Academy als Sieger zur Waage zurück. Bei seinen bisherigen Auftritten bei der inoffiziellen Galopper- Weltmeisterschaft in den USA war Lester bislang leer ausgegangen.

In Wien gab Piggott im Jahr 1975 seine Visitenkarte ab. Sein Gastspiel geriet allerdings zum Fiasko: Drei Ehrenplätze blieben die einzige Ausbeute. Nicht zuletzt deshalb legte Piggott bei seinem Derby-Auftritt im Jahr 1993 großen Wert darauf, dass er in der Freudenau nur Chancenpferde zu reiten bekam. Der „Champ" nützte die Gelegenheiten optimal: vier Ritte, drei Siege — so lautete seine Bilanz.

1995 – im Alter von 60 Jahren – folgte schließlich sein endgültiger Abschied vom aktiven Rennsport, danach genoss er sein Leben als Privatier. In den frühen Morgenstunden des 29. Mai 2022 verstarb Lester Piggott in Genf, nachdem er zuvor bereits mehrere Tage im Krankenhaus verbracht hatte. Er sei friedlich eingeschlafen, heißt es in einer offiziellen Erklärung.