Warum wissen wir so wenig über bestimmte Aspekte der Kommunikation von Pferden? Obwohl wir seit Tausenden von Jahren mit dieser Spezies arbeiten, sie nutzen, lieben, versorgen und erforschen, wissen wir über das Lecken und Kauen, das Pferde in der Interaktion untereinander, aber auch mit uns zeigen, herzlich wenig. „Vor zwanzig Jahren gab es dazu eine erste Studie aus der Schweiz, die das Leerkauen als Unterlegenheitsgeste interpretierte“, erinnert sich die Verhaltensforscherin Prof. Dr. Konstanze Krüger. „Darüber ist man heute hinaus. Aber es ist immer noch unglaublich schwierig, physiologische Parameter wie Herzfrequenz und hormonelle Werte für die kurzen Momente des Leerkauens zu messen.“ Das müsste man aber, um die genauen Zusammenhänge und Hintergründe im jeweiligen Kontext zu beweisen.
Wie wenig Einigkeit zu diesem Thema herrscht, zeigt auch die begriffliche Uneinheitlichkeit: Licking and Chewing (Lecken und Kauen) wird es im englischen Sprachraum zumeist genannt, im wissenschaftlichen Kontext auch non-nutritive Chewing (nicht-ernährungsbedingtes Kauen). Deutsche Forschungsarbeiten bezeichnen das Phänomen zumeist als Leerkauen.
Doch was genau versteht man eigentlich unter Leerkauen?
Wie Leerkauen exakt aussieht, ist nicht genau definiert. Man weiß aber bereits, dass verschiedene körperliche Aspekte eine Rolle spielen. In ihrer Doktorarbeit „Die Bedeutung des Leerkauens bei Pferden aus Sicht der Physiologie und der Ethologie“ beschreibt Marion Wickert folgende Merkmale: Maul leicht geöffnet oder geschlossen, Mahlbewegung (wobei eine sichtbare Anspannung des großen Kaumuskels möglich ist oder fehlen kann), Ohrenstellung seitlich nach hinten, Ohrmuschelöffnung nach unten, gestreckter Hals, Blinzeln. Zudem nennt sie zeitversetztes Lippenlecken, Gähnen, Schnauben und Schütteln von Kopf und Hals als mögliche Begleiter.
Anders sehen die Beobachtungen des US-amerikanischen Neurowissenschaftlers für Pferde, Dr. Steve Peters, aus, der im Kontext mit dem Lecken und Kauen vor allem Kopfwippen, Veränderungen in der Atmung und Lippenzucken wahrnimmt.
Von einem minimalen Zittern und/oder einem deutlichen Vollerwerden der Lippen, einer Veränderung der Atmung oder des Ohrenspiels berichten auch Physiotherapeuten und Osteopathen, die auf das Abkauen als Reaktion des Pferdes auf ihre Behandlung achten. Kurz vor dem Kauen und Lecken bemerken sie häufig ein vermehrtes In-sich-Hineinhorchen des Pferdes und/oder eine positive Veränderung der Muskulatur, die sie behandeln.
Viele achten während ihrer Arbeit zudem auf Unterschiede in der Intensität des Leckens und Kauens, was die einzelnen Anteile – mit (wenig bis viel) sichtbarer Zunge, unterschiedlich starken Kieferbewegungen und Muskelspannung – sowie die Häufigkeit betrifft, mit der die Aktion vom Pferd ausgeführt wird.
Am meisten missverstandene Verhaltensweise
Fast genauso vielfältig wie die beobachteten Formen des Leerkauens sind die Erklärungsversuche: Peters vermutet, „der angespannte Kiefer kann eine der letzten Stellen sein, die das Pferd loslässt, bevor es vollständig vom Sympathikus zum Parasympathikus wechselt“, und das Pferd zeige diesen Prozess hin zur Entspannung durch Leerkauen an.
Laut der US-amerikanischen Tierverhaltensforscherin Dr. Sue McDonnell ist das „Leck- und Kauverhalten wahrscheinlich eine der am meisten missverstandenen Pferdeverhaltensweisen. Es spiegelt einfach eine Veränderung im Tonus des autonomen Nervensystems wider, die zu Speichelfluss führt, der das Lecken, Kauen und manchmal ein großes Schlucken anregt.“
Bei uns kam der Aspekt des Leerkauens in der Arbeit mit Pferden durch Monty Roberts auf, der anfangs seine Beobachtungen als Unterwerfung, später als Kooperationsbereitschaft deutete: „Die Leck- und Kaubewegungen des Mauls, die ich beobachtet hatte, waren ein Ausdruck der Reue“, berichtet er in seinem Buch „Der mit den Pferden spricht“ von 1999. Auf seiner Website schreibt er in einem Beitrag von 2020: „Bitte beachten Sie, dass das Lecken und Kauen Ausdruck des Adrenalinabbaus ist.“ Auch dies ist bislang nicht belegt.
„Das Thema ist nicht das einzige, das aus wissenschaftlicher Sicht eine Wandlung erlebt“, erklärt Krüger. „Eng damit verbunden sind auch neue Erkenntnisse, die zeigen, dass es, selbst in kleinen Gruppen, eher demokratische Strukturen sind, die das Zusammenleben und die Interaktionen in einer Pferdeherde bestimmen, als das bisher angenommene eine Leittier – und zwar unabhängig von der Größe einer Gruppe. Das Körnchen Wahrheit in den bisherigen Ansichten ist aber: Den ranghohen Tieren wird vom Rest der Herde am meisten geglaubt, wenn sie eine Ansage machen.“ Wie Krüger in ihrem neuen Buch „Forschung trifft Pferd“ schreibt, können Leck- und Kaubewegungen – wie auch Gähnen oder Kopfschlagen – „entstehen, wenn zwei gegensätzliche Verhaltensweisen konkurrieren (z. B. Flucht und Annäherung, Angst vor dem Sprung im Parcours und Angst vor einer Strafe). Das Pferd befindet sich in einer Zwickmühle, deshalb zeigt es Verhaltensweisen, die scheinbar nicht in diese Situation passen.“
Von Anspannung zu Entspannung
Eine recht aktuelle Studie aus Norwegen zum Lecken und Kauen hat diesen Aspekt mit einer Erkenntnis bestätigt, die überraschte: Die Untersuchung, bei der frei lebende Pferdeherden in Ecuador beobachtet wurden, kam zu dem Schluss, Lecken und Kauen sei ein natürliches Verhalten, das nach einer stressigen Situation gezeigt werde, etwa einem Konflikt in der Herde. Beide – Angreifer und Angegriffener – zeigen das Verhalten im Anschluss als Zeichen ihrer Entspannung. Ein spannender Aspekt der Studie war, dass das angreifende Pferd sogar häufiger leckte und kaute als das angegriffene Pferd.
Das ist tatsächlich neu, zunächst war man davon ausgegangen, dass das unterlegene rangniedere Pferd diese Geste zeigt, was schlussendlich auch zur Interpretation führte, das Pferd erkenne dadurch die Führung des Menschen an. Dennoch schrieb bereits Wickert 2012: „Leerkauen ist eine so feine Verhaltensweise, (…) die in der Interpretation von Befindlichkeiten bei Pferden weiterhelfen kann.“ Auch sie hat beobachtet, dass sich Leerkauen – etwa in der Bodenarbeit – in der Übergangsphase von Anspannung zu Entspannung zeigt. „Aus ethologischer Sicht ist das Leerkauen bei der Bodenarbeit ein sichtbares Zeichen des Spannungsabbaus. Aus physiologischer Sicht bewirkt die Kaubewegung eine Aktivierung des Parasympathikus. Auch das Leerkauen trägt somit je nach Dauer der Kautätigkeit mehr oder weniger stark zur Entspannung bei.“
Das sagen Praktiker
Wie das in der Natur der Sache liegt, sind Praktiker:innen rund um den Globus bereits damit beschäftigt, weitere Erfahrungen mit dem Thema zu machen. Nicht zuletzt können erst solche in der Arbeit mit Pferden entwickelten Ansichten als wissenschaftliche Thesen überprüft werden. Wolfgang Hellmayr vom HTC in Stadl- Paura nennt das Leerkauen „eine emotionale Geste, was für mich bedeutet, dass das Pferd mit dem Hirn dabei ist, darüber nachdenkt, was gerade passiert, man es also mit seiner Anfrage oder Hilfengebung erreicht hat. Wenn ich beispielsweise in der Freiarbeit einen Hengst korrigiere, indem ich ein Rückwärtsrichten verlange, warte ich, bis ich das Lecken und/oder Kauen sehe, bevor ich weitermache. Ich habe festgestellt, dass die Pferde so besser und effektiver lernen. Deshalb sehe ich auch andere emotionale Gesten, die etwa Ärger oder Widerstand des Pferdes transportieren – dominantes Kopfschütteln oder Aufstampfen etwa –, nicht als negativ. Sie zeigen mir, dass das Pferd bei der Arbeit mitdenkt und seinen Geist einsetzt, um mit mir zu kommunizieren.“
Horsemanship-Trainer Florian Oberparleiter aus Sierning in Oberösterreich ist überzeugt, dass beim Lecken und Kauen Stress abgebaut wird: „Wenn man genau hinsieht, lösen sich mit der Aktivität im Maul auch Spannungen im ganzen Körper. Nach meinen Beobachtungen scheinen sich das Lösen im Maul und die Entspannung im restlichen Körper wechselseitig zu beeinflussen und laufen nicht immer in einer bestimmten Reihenfolge ab – mal zuerst das Maul, mal zuerst der Körper.“ Stressabbau sieht er als durchwegs positiv an. Weniger hält er von dem Umkehrschluss, den Stressabbau als Beweis dafür heranzuziehen, dass das Training beim Pferd Stress verursacht hat. „Nach dem Motto: ‚Wenn das Pferd leckt und kaut, kann das Training wohl nicht angenehm für das Pferd sein.‘ Ich halte das für eine gewagte Verallgemeinerung. Oft erlebe ich Pferde, die in entspannter Atmosphäre versuchen herauszufinden, was denn nun zu tun ist. Verstehen sie es, lösen sie sich und kauen ab. Für mich sind solche Situationen vergleichbar damit, wenn wir Menschen nach einer Antwort suchen und dann plötzlich eine gute Idee haben. Der Zustand davor ist mit einer leichten, positiven Anspannung verbunden, die von Entspannung gefolgt ist. Ich persönlich bewerte das Lecken und Kauen daher in vielen Situationen als positiv, versuche es aber – wie auch jedes andere Signal des Pferdes – immer im Gesamtkontext zu sehen.“
Lecken und Kauen zulassen
Bei der Boden- und Freiarbeit ist es leicht, Lecken und Kauen zuzulassen und wahrzunehmen. Mit Halfter und auf Augenhöhe des Mauls kann es stattfinden und beachtet werden. Etwas anders sieht das Ganze schon im Sattel aus, besonders mit einer Ausrüstung oder Reitweise, die Abkauen erschwert oder unterbindet.
Dr. Udo Bürger, vor dem Zweiten Weltkrieg leitender Veterinär an der Kavallerieschule in Hannover, plädiert in seinem 1959 erstmals erschienenen und bis heute aufgelegten Buch „Vollendete Reitkunst“ dafür, dem jungen Pferd „das unbefangene Kauen“ unbedingt ohne Reithalfter beizubringen, da ansonsten „sinnlos von Anfang an ein Zwang im Kiefer ausgelöst wird, der sich auf das ganze Pferd ausdehnen kann“. Denn „mit diesen Riemen, auch sehr bezeichnend Sperrhalfter genannt, binden wir – primitiv ausgedrückt – das Maul zu. Reiterlich gesprochen begrenzen wir die Kaubewegung oder verhindern sie ganz, falls wir den Riemen fest anziehen“, erklärt der Tierarzt weiter.
Im Sattel ermöglicht man das Lecken und Kauen besonders dann, wenn man die Zügel als Belohnung und Pause hingibt. Man kontrolliert es, indem man hört, ob es auftritt oder sieht es sogar vom Sattel aus, wenn das Pferd sich nach unten dehnt. Bei einer Reitweise am Zügelgewicht bzw. losen Zügel kann das Pferd ohne oder mit korrekt verschnalltem Reithalfter ebenfalls abkauen – und ein:e feine:r Reiter:in dies spüren.
Um zu verstehen, warum es so wichtig ist, dass das Pferd lernt, mit dem Gebiss unbefangen zu kauen, muss man wissen, dass entspanntes, weiches Abkauen das Kiefergelenk sowie die Muskulatur von Kiefergelenk und Genick lockert. Darüber hinaus führt das Kauen mit seiner Aktivität von Lippen, Zunge und Kiefermuskulatur sowie Schluckbewegungen auch zu einer Lockerung der Spannung in Geweben und Muskulatur bis in den Brust- und Schulterbereich.
Die über ein biomechanisch freies Abkauen zu erreichende Entspannung wirkt sich auch auf die Psyche aus. Dass man sich dies früher regelmäßig zunutze gemacht hat, sieht man daran, dass in den Heeresdienstvorschriften – der Grundlage für die FN-Richtlinien – Übungen zum Abkauen enthalten waren. Hierbei kaut das Pferd vor dem Reiten im Stehen einige Minuten auf sanfte Impulse am Zügel vom Boden aus ab. Die früher weit verbreitete Tradition der Abkauübungen führt auch zu einer Frage, die Forscher:innen schon länger bewegt: Was ist Henne, was Ei? Entspannt das Lecken und Kauen oder kauen die Pferde ab, weil sie (wieder) entspannt sind. Betrachtet man aktuelle Forschungsergebnisse zum Menschen liegt die Antwort nah: Beides ist möglich. Auch wer ohne Grund lächelt, fühlt sich danach fröhlicher und glücklicher. Demnach müsste auch das Kauen und Lecken der Pferde ein selbstbelohnendes Verhalten sein, das immer mehr gezeigt wird, je öfter man es ermöglicht, und je häufiger man es situativ richtig einschätzt und entsprechend reagiert. Pferdebesitzer:innen und Trainer:innen, die sich damit auseinandersetzen, können diese Beobachtung bestätigen.