Freizeit & Praxis

Schwer in Ordnung

Ein Artikel von Lisa Wallner | 03.05.2024 - 11:25
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© www.slawik.com

Was in früheren Zeiten vor allem für schwere Arbeiten gebraucht wurde, feiert heute eine Renaissance der anderen Art: Das Kaltblut hält Einzug in den Reitställen und wird immer häufiger Sport- und Freizeitpartner anstatt Gebrauchspferd. Doch woher kommen sie, die ruhigen Gefährten mit der samtigen Nase, wofür eignen sie sich, was brauchen sie und was ist „typisch Kalti“?

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Ein eingespieltes Team: Mensch und Kaltblut beim Holzrücken, das heute wieder mehr in den Fokus gelangt. © www.slawik.com

Lang ist’s her – oder?

Für die meisten von uns ist die Vorstellung vom vor den Pflug gespannten Kaltblut eine längst in Vergessenheit geratene, ja fast schon urzeitlich anmutende Darstellung einer Welt, mit der wir keine Berührungspunkte mehr haben. Doch wenn man es genau nimmt, ist die Zeit, in der die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen standardmäßig und ausschließlich mit einem PS erfolgte, noch gar nicht so lange her. Bis zur stetig wachsenden Mechanisierung mit Beginn des 20. Jahrhunderts waren Arbeitspferde unabdingbar: Sei es im Ackerbau, beim Transport von Waren aller Art, in der Industrie oder in der Forstwirtschaft – kaum ein Bereich kam ohne die starken Tiere auf vier Hufen aus. So waren in ganz Europa und darüber hinaus Vertreter von Rassen wie Noriker, Schwarzwälder, Süddeutsches Kaltblut, Percheron, Clydesdale oder auch Jütländer keine seltenen Anblicke. In den Gebirgsregionen haben sich auch leichtere Vertreter wie der Haflinger oder der Freiberger durchgesetzt, die mittlerweile seit vielen Jahren „moderner“ und sportlicher gezüchtet werden und mit dem ursprünglichen Gebrauchspferd oft nicht mehr viel gemeinsam haben. Arbeitspferde gab es also in so gut wie jeder Region, viele Rassen sind noch heute nach ihrem Ursprungsort benannt und weithin bekannt.

Übrigens ist seit einiger Zeit wieder eine kleine Rückkehr zur schonenden und entschleunigenden Arbeitsweise mit dem Pferd beobachtbar: „Als Arbeitspferd, ob für bodenschützende Wald- oder Feldarbeit, zum Holzrücken oder in der Weingartenpflege, der Noriker wird wieder immer häufiger eingesetzt“, freut sich Manuela Baldauf, Norikerreferentin der Ländlichen Reiter und Fahrer NÖ, und bestätigt, was Kaltblutfans schon lange wissen – „die Zuchtkennzahlen der Rasse Noriker sind in den letzten Jahren stabil bis leicht steigend, die Nachfrage nach Kaltblütern ist definitiv gegeben“.

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Geballte Kraft auf vier Hufen: Noriker werden immer beliebter bei Freizeit- wie Sportreiter:innen. © www.slawik.com

Wiederentdeckte Liebe

Seit den 1990er-Jahren erleben Kaltblüter einen Aufschwung: Unzählige Freizeitreiter:innen sind auf den Geschmack gekommen und schätzen die sanften Riesen vor allem wegen ihres ausgeglichenen, bodenständigen Temperaments, ihrer unglaublichen Vielseitigkeit und nicht zuletzt auch aus einem auf den ersten Blick banal wirkenden Grund: „Viele Menschen sind wegen der einzigartigen Farbvielfalt von den Pferden begeistert. Beim Noriker etwa kommen zu den gängigen Farben auch speziellere Fellvarianten wie etwa Mohrenkopf, Tiger, Schecke oder Blauschimmel vor, die einfach eine richtige Augenweide sind“, weiß Manuela Baldauf. Dazu gesellt sich noch eine große Portion Robustheit, die den Norikern und Kollegen viel Zuspruch vor allem in der Freizeitreiter-Riege einbringt. Und doch sieht man sie auch immer häufiger auf den Turnierplätzen – vor allem in der Dressur in den niedrigeren Klassen sind Kaltblüter längst keine Exoten mehr und zeigen, dass sie auch im Sport verlässliche Partner sind. Die Kraftpakete unter den Pferden haben in der Regel gemütliche, gut zu sitzende Gänge. Sie können sich durchaus elegant präsentieren, aber wenn man in den hohen Klassen erfolgreich beziehungsweise konkurrenzfähig bleiben will, muss man sich der Realität stellen: Das Gebäude der Kaltblüter lässt sie früher oder später an Grenzen stoßen, so spektakuläre Bewegungsabläufe, wie sie in der modernen Warmblutzucht zu finden sind, wird es bei Kaltblütern nicht geben. Das ist jedoch in keiner Weise negativ, es ist einfach eine Gegebenheit, mit der man sich arrangieren muss und es bedeutet auch nicht, dass ein Kaltblut grundsätzlich keine Lektionen der schweren Klassen erlernen kann – die Ausführung wird lediglich anders aussehen als es im hohen Sport gewünscht ist. „Im Rahmen seiner Möglichkeiten und bei entsprechend richtiger, pferdegerechter, klassischer Ausbildung sind Kaltblüter im Basis-Dressursport durchaus eine Konkurrenz; vorausgesetzt, dass von den Richtern auch die Parameter Ausbildung, korrektes Ausführen der Lektionen, Skala der Ausbildung beurteilt werden“, erklärt Manuela Baldauf.

Vor allem im Fahrsport sind die schweren Rassen aber längst zuhause: Neben ihren leichteren Artgenossen trumpfen Noriker und Co. regelmäßig vor der Kutsche auf und zeigen, was in ihnen steckt: „Aus Sicht der Ländlichen NÖ und der Niederösterreichischen Pferdezucht sind Kaltblüter bestens für den Einsatz als Fahrpferde geeignet“, zeigt sich Manuela Baldauf begeistert von den Leistungen der Pferde vor dem Wagen.

Beim Voltigieren können schwerere Rassen ebenfalls beweisen, was sie draufhaben – so hat etwa der Noriker Aragorn Elmar XV bei der WM in Flyinge 2023 das Duo Sarah Victoria Köck und Clara Dick im U18-Pas-de-deux hervorragend begleitet und zu tollen Erfolgen beigetragen (siehe auch PR 9/23, Seite 48–53).

Etwas weniger spektakulär aber nicht minder wichtig ist die Arbeit der Pferde in Settings, die uns Menschen helfen. Im Bereich der pferdegestützen Coachings oder als Therapiepferde haben sich Kaltblüter längst etabliert: Aufgrund ihres ruhigen Wesens sind sie hier geschätzte Partner und für Coaches und Klient:innen nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. Das bestätigt auch Katja Kroboth, stellvertretende Sektionsleiterin Ergotherapie beim OKTR: „Ich schätze an der Zusammenarbeit mit den Kaltblütern in der Ergotherapie mit Pferd, vor allem ihre Ruhe, aber auch gleichzeitige Präsenz und Aufmerksamkeit in der therapeutischen Arbeit. Dies macht sie für mich zu großartigen, verlässlichen Arbeitspartnern und wertvollen Begleitern für meine Klient:innen“.

Die Pferde im Großformat sind also vielseitiger als man glauben möchte, überzeugen in den unterschiedlichsten Sparten und sind für viele Menschen treue Partner. So unkompliziert sie oft im Umgang auch sind, einige Besonderheiten gibt es auch bei der Anschaffung eines Kaltblutes zu beachten.

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Dieser Schwarzwälder zeigt sein Dressurtalent. © www.slawik.com

Genügsam aber nicht anspruchslos

Obgleich die sanften Riesen als relativ genügsam in der Haltung gelten – abgesehen, davon, dass alles, von der Ausrüstung bis hin zur Stalleinrichtung, eine Nummer, oder auch mal zwei, größer gebraucht wird –, in Sachen Fütterung muss man sich als Kaltblutbesitzer:in eventuell den ein oder anderen Gedanken mehr machen. Konkret heißt das, dass ein Kaltblüter, wie jedes andere Pferd auch, eine adäquate und qualitativ hochwertige Grundversorgung braucht. Die Arbeitsleistung der ursprünglich hart schuftenden Tiere hat in den vergangenen Jahrzehnten allerdings immens abgenommen – heute muss kaum ein Kaltblut mehr gemäß seinem Potential arbeiten. Freilich wird auch kaum eines der schweren Rösser mit den Mengen an Kraftfutter versorgt werden, wie es anno dazumal Usus war. Aber dennoch: viele Kaltblüter leiden an Gewichtsproblemen, die leichtfuttrigen Pferde stellen also so manche:n Besitzer:in vor große Herausforderungen in Sachen Fütterungsmanagement. Gutes Heu in einer angemessenen Menge ist Grundvoraussetzung für ein gesundes Pferd, dabei sollte man aber nicht übertreiben, außerdem ist der Mineralstoffbedarf von Kaltblütern ein Aspekt, der leicht unterschätzt wird: Nicht selten kommt es zu Mangelerscheinungen, die sich dann zu allerlei gesundheitlichen Problemen ausweiten. Meist liegt hier die Ursache in einer Dysbalance zwischen den aufgenommenen Mineralstoffen und der Energiedichte des Futters: Zu viel Eiweiß, Zucker und Stärke treffen auf zu wenig Spurenelemente, was letztlich unter anderem zu Mauke, EMS und anderen schweren Erkrankungen wie CPL (chronisch progressives Lymphödem) führen kann. 

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Die englischen Clydesdales gehören zu den bekanntesten Kaltblut-Rassen, auch dank diverser Werbeauftritte. © www.slawik.com

Liegt eine Stoffwechselstörung wie etwa PSSM, EMS oder Cushing vor, ist auch auf die Hufgesundheit noch mehr zu achten als es ohnehin der Fall wäre, denn ein eingeschränkter Stoffwechsel kann zu Schädigungen der Hufsubstanz führen – schlechte Hornqualität, eine Verbreiterung der weißen Linie oder auch Strahlfäule bereiten oft Probleme. Generell sind die Hufe bei Kaltblütern oft das sprichwörtliche Sorgenkind: Durch das ohnehin recht hohe Körpergewicht schon in jungem Alter wird der Huf besonders beansprucht. Gepaart mit einem häufigen Mangel an Bewegung kommt es gerne zu schlechterer Durchblutung, eine denkbar ungünstige Kombination für den Pferdehuf. Entgegenwirken kann man einer solchen Unterversorgung ganz gezielt, in dem man einerseits den Mineralstoff-Status seines Pferdes kennt und andererseits nicht auf Verdacht, quasi im Blindflug, supplementiert. Denn auch ein Zuviel an gewissen Vitaminen und Mineralien kann die Aufnahme anderer essentieller Stoffe behindern. Holt man sich also einen kompetenten Tierarzt ins Boot, der die Blutwerte des Pferdes ermittelt, kann man zielgerichtet die richtigen Bausteine für eine optimale und vor allem kaltblutgerechte Versorgung auswählen. Das zweite Kernelement für einen gesunden sanften Riesen ist ausreichende und auf die Bedürfnisse des Pferdes angepasste Bewegung. Damit ist nicht nur das Training gemeint, denn Bewegung fängt bei der Haltung an – die meiste Zeit des Tages verbringen unsere Vierbeiner nämlich nicht mit Arbeit. Die Haltung in Offenställen oder Paddocktrails ist also auf jeden Fall eine gute Entscheidung, wenn man mehr Bewegung in den Alltag bringen möchte.  

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Bei aller Größe sind Kaltblüter sanft und empfindsam. © www.slawik.com

Kaltblüter sind außerdem wahre Meister, wenn es darum geht, ausdauernde aber gemächlich voranschreitende Arbeiten auszuführen. Das kann man sich im Training zu Nutze machen und neben der Dressur- und Bodenarbeit etwa ausgedehnte Spaziergänge oder Aus- beziehungsweise Wanderritte mit langen Schrittpassagen in den Alltag integrieren. Hier können die ehemaligen Arbeitsrösser auch eine weitere Stärke ausspielen: ihre enorme Trittsicherheit. Weniger empfehlenswert hingegen ist Bewegung in Form von intensiven Springtrainings mit hohen Hindernissen: Die bei der Landung auf die Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder wirkenden Kräfte sind aufgrund des höheren Gewichtes der Kaltblüter noch höher, als sie es ohnehin schon wären, und beanspruchen daher sämtliche Strukturen des Pferdekörpers enrom, betont Manuela Baldauf – und nennt damit auch den Grund, warum die Ländlichen NÖ den Noriker nur im Dressursport forcieren.

Ist man sich der Möglichkeiten und Limitierungen eines Kaltblutes bewusst und lässt sich auf die schlauen Tiere ein, gewinnt man mit Geduld und Pferdeverstand einen Partner, der in Sachen Vielseitigkeit und Bodenständigkeit auf einer eigenen Ebene steht. Außerdem, so finden wir, sieht so eine imposante Erscheinung mit dem beeindruckenden Kopf, dem üppigen Behang und den sanften Augen auch wirklich wunderschön aus, oder?

Die Expertin

Manuela Baldauf ist mit Pferden aufgewachsen und, seit ihr Vater im Jahr 2000 die erste Norikerstute der Familie gekauft hat, absoluter Kaltblut-Fan. 2016 hat sie das Norikerreferat der Ländlichen Reiter und Fahrer in Niederösterreich übernommen, 2017 den Österreichischen Norikercup Dressur gegründet, und sie ist stets bemüht, den Norikersport in der Sparte Dressur zu fördern. Mit ihrer Stute Terry ist sie in der Dressur erfolgreich und war bereits auf vielen Messen im In- und Ausland vertreten. Auch in der Zucht der beliebten österreichischen Kaltblutrasse ist Baldauf gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten engagiert.