Haltung

Bye-bye, Boxenruheblues

Ein Artikel von Pamela Sladky | 06.08.2019 - 12:41
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Wer seinem Pferd den Boxenruheblues vertreiben will, muss nicht unbedingt ein Kaspertheater veranstalten. Es gibt reichlich Möglichkeiten, die die Langeweile vertreiben und das körperliche Wohlbefinden verbessern.
© Alexandra Evang Photographie

Ein akuter Hufreheschub, eine Kolik- OP, eine Verletzung an den Gliedmaßen oder eine Infektionskrankheit: Es gibt viele Gründe, warum der Tierarzt Boxenruhe verordnet. Manchmal dauert sie nur ein oder zwei Tage. In manchen Fällen kann es aber durchaus notwendig sein, über mehrere Wochen hinweg die Krankenbox zu hüten. Abhängig vom Gemüt und von der Frustrationstoleranz des jeweiligen Pferdes kann Boxenruhe damit zu einer großen Herausforderung werden – ganz besonders für die Psyche des vierbeinigen Patienten.

Ist die Akutphase erst einmal überwunden und sind etwaige Schmerzen abgeklungen, macht sich vor alle eines breit: gähnende Langeweile. Bei 24 Stunden auf meist nicht viel mehr als zehn Quadratmetern auch kein Wunder. Kranken Kindern bringt ein spannender Märchenfilm oder ein tolles Buch etwas Abwechslung. Beim Pferd ist neben zwei- bis dreimal Futter pro Tag hingegen meist keine Ablenkung in Sicht. Die dröge Eintönigkeit sorgt nicht selten für Stress. Und der wiederum kann nicht nur den Heilungsprozess verlangsamen, sondern auch Magengeschwüre verursachen oder Untugenden wie Weben, Koppen oder Boxenlaufen auslösen.

Genau vor diese Folgen fürchtete sich Agnes Trosse, als bei ihrer flippigen Stute Rapunzel nach einem Weideunfall ein Griffelbeinbruch mit Sehnenschaden diagnostiziert wurde und der Tierarzt Boxenruhe verordnete. „Im Offenstall gab es dafür keine Möglichkeit, also musste Rapunzel zwei Monate in der Klinik bleiben. Da Rapunzel zu Stereotypien und Magengeschwüren neigt, hatte ich große Sorge, dass ihr die erlaubten zehn Minuten Schritt am Tag nicht reichen würden. Deshalb suchte ich nach spannenden Aufgaben, die Rapunzel lösen konnte, ohne sich zu viel zu bewegen“, erzählt die Trainerin für klassisch-barocke Reiterei, die ihre Erfahrungen rund um das Thema Boxenruhe in einem kürzlich im Cadmos-Verlag erschienenen Buch verarbeitet hat.

Doch was kann man tun, um dem Vollzeit-Boxenpferd die Zeit in seinen vier Wänden etwas erträglicher zu machen? Agnes Trosse fand heraus: eine ganze Menge. Bevor man als eifriger Pferdehalter allerdings zur Tat schreitet, gilt es abzuklären, ob die vorliegende Erkrankung eine Bespaßung überhaupt erlaubt – und falls ja, in welcher Form. Denn es gibt durchaus Fälle, da sollte man sein Pferd einfach in Ruhe lassen. Koliken im akuten heftigen Stadium gehören unbedingt in diese Kategorie, aber auch der Zustand nach einer Kolik-OP, wenn das Pferd eine große Bauchnaht hat.

Veterinär Dr. Jan Carlos Merkt, der Trosse bei ihrem Buch fachlich unterstützte, nennt in diesem Zusammenhang außerdem zentralnervöse Erkrankungen wie Meningitis oder neurologische Ausfallserscheinungen, wie sie bei Herpeserkrankungen auftreten können. Leidet das Pferd akut an einer solchen Erkrankung, kann der Besitzer erst einmal nichts tun. „Wenn das Pferd schwer krank ist und vielleicht sogar ums Überleben kämpft, kann der Besitzer ihm nicht helfen und stört eher. Das ist durchaus mit der Situation auf einer Intensivstation im Krankenhaus vergleichbar, wo in der akuten Phase auch kein Angehöriger zum Patienten darf.“

Außerhalb solcher Extremsituationen kann man aber als Pferdebesitzer durchaus zum positiven Verlauf des Genesungsprozesses beitragen. „Allerdings sollte vorher mit dem behandelten Arzt abgeklärt werden, was das Pferd machen darf“, so Dr. Merkt.

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Massagen helfen dem Pferd, sich zu entspannen.   © Alexandra Evang Photographie

Zeit fürs XXL Pflegeprogramm

„Die einfachste und traditionellste Weise, sich mit seinem Pferd in der Box zu beschäftigen und ihm dabei einen gewissen Wellnessfaktor zu bieten, ist die tägliche Pflege. Bürsten, kämmen, kraulen, streicheln, massieren, Hufe auskratzen und eventuell auch waschen: Das alles gehört zu täglichen Routine – und die sollte so weit wie möglich beibehalten werden. Insbesondere dann, wenn das Pferd in der Klinik bleiben muss. In diesem Fall schaffen vertraute Elemente ein Stückchen Zuhause und Wohlbefinden im Klinikalltag“, sagt Agnes Trosse.

Für das Pflegeprogramm bringt die Boxenruhe ausnahmsweise sogar etwas Positives mit sich. Durch das Wegfallen der üblichen reiterlichen Aktivitäten wird zur Abwechslung mal nicht unter Zeitdruck geputzt und gepflegt. So bietet sich die Gelegenheit, gezielt auf die Mimik und Körpersprache des Pferdes zu achten. An welcher Körperstelle genießt es das Putzen ganz besonders, wo wird es nicht so gerne berührt? Welche Bürste empfindet es als angenehm, welche weniger? „Meine Stute Rapunzel darf sich inzwischen die Bürsten selbst aussuchen. Reagiert sie mit angelegten Ohren oder zusammengekniffenem Maul, akzeptiere ich das und lege die ungeliebte Bürste weg“, erklärt Agnes Trosse. Die Sorge, dass man damit dominantem Verhalten Tür und Tor öffnet, kann die „Feine Hilfen“-Chefredakteurin guten Gewissens zerstreuen: „Meine Stute wird dadurch weder dominant noch verwöhnt, sondern dankt es mir mit deutlich mehr Vertrauen und größerer Freude in der täglichen Zusammenarbeit. Außerdem gibt sie mir auf diese Weise wichtige Hinweise darauf, wie sie sich fühlt und wo Verspannungen zu lösen sind.“

Eine weitere Möglichkeit, dem Pferd etwas Gutes zu tun, sind Massagen. Sie wirken entspannend, fördern die Durchblutung und lockern die Muskulatur. Einige einfache Massagegriffe können selbst Laien bedenkenlos anwenden. Dabei sollte das Pferd aber immer gut im Auge behalten werden. Wirkt es verspannt, kneift es das Maul zusammen oder dreht es sich weg, bedeutet das ganz klar: Hier passt was nicht. Entweder war der Druck zu stark oder die Stelle an sich unangenehm. Solche Hinweise gilt es zu akzeptieren, einen Schritt zurückzugehen und das Pferd von sich aus kommen zu lassen. Immerhin geht es weder um Erfolg noch um Erziehung, sondern einzig darum, dass sich das Pferd entspannt und die Gegenwart seines Besitzers als etwas Angenehmes empfindet.

Wenn möglich, bleibt das Pferd während des Wellnessprogramms unangebunden. So kann es deutlicher zeigen, was es mag – und was nicht. Das gilt allerdings nur, solange es sich ruhig verhält. Ist der Patient sehr aufgeregt, ist Anbinden mit Halfter und Strick aus Sicherheitsgründen ratsam. Wird das Pferd dabei noch unruhiger, hilft nur noch eins: einfach in Ruhe lassen. Vielleicht passt es zu einem späteren Zeitpunkt besser.

Kein Platz für Ehrgeiz

Oberste Prämisse für das Entertainmentprogramm in der Box: Sämtliche Aktivitäten sind ausschließlich dazu da, dem Pferd die Zeit angenehmer zu machen, es zu entspannen, ihm die Langeweile zu vertreiben und sein Wohlbefinden zu erhöhen. Das heißt gleichzeitig, dass jeglicher Ehrgeiz fehl am Platz ist. Pferde sind in der Box leicht unter Druck zu setzen. Durch den beengten Raum fehlt ihnen die Fluchtmöglichkeit, was in unangenehmen Situationen leicht zu hohem Stressaufkommen führt. Pferdebesitzer sollten ihre Sensoren deshalb auf Maximalempfang stellen, um den leisesten Anflug von Unbehagen bereits im Ansatz zu erkennen. Lassen Sie Ihr Pferd selbst entscheiden, was es möchte und was nicht. Hat es keine Lust auf Denksportaufgaben, soll es so sein. Vielleicht freut es sich stattdessen über eine ausgedehnte Putzeinheit mit Massage. Je aufmerksamer der Mensch auf seine Signale reagiert, desto mehr fühlt sich das Pferd ermutigt, sich mitzuteilen. Das trägt nicht nur zum allgemeinen Wohlbefinden des Boxenhäftlings bei, sondern stärkt letztlich auch die Beziehung zueinander.

Arbeit für die grauen Zellen

Um das Pferd während der Boxenruhe mental besser auszulasten, bietet sich Targettraining an. „Dabei lernt das Pferd, dass es etwas Bestimmtes berühren soll. Zu Beginn meist mit dem Maul“, erklärt Trosse, die ihrer Rapunzel mit dieser Form des Trainings den Klinikaufenthalt interessanter gestaltete. Als Target – englisch für „Zielobjekt“ – wird im professionellen Tiertraining häufig ein Soft- oder Tennisball an einem Stab verwendet, eine Fliegenklatsche tut’s aber auch.

Das einfachste Hilfsmittel für Targeteinsteiger ist jedoch die Hand: Berührt das Pferd die flach ausgestreckte Hand, folgt ein Lob. Das kann klassisch mittels Klicker erfolgen oder einfach per Stimme. Zum Erhalt der Motivation ist der Einsatz von Leckerlis im Anschluss an das akustische Signal allerdings sehr empfehlenswert, im Zusammenhang mit dem Klicker sogar ein Muss. Denn ein Klick ist immer ein Versprechen von folgendem Futterlob.

Sitzt dieser erste Schritt sicher, sind der Phantasie praktisch keine Grenzen gesetzt. Besonders beliebt ist die Übung „Küsschen geben“. Auch Rapunzel hat sie gelernt. „Sobald das Pferd das Handtarget versteht, ist der Weg zum Küssen nicht mehr weit“, lacht Agnes Trosse und erklärt: „Zunächst hält man dafür die Hand immer näher an das eigene Gesicht und ruft das Berühren des Handtargets ab. So kommt es allmählich fast automatisch zum Berühren der Wange. Trifft das Pferd bei dieser Übung die Wange statt der Hand, klickt man und lobt.“ Die Berührung wird danach meist mit einer Geste und einem Stimmsignal verknüpft. „Ich zeige auf meine Wange und sage ‚Küsschen‘. Im Normalfall verbinden die Pferde das alles ziemlich schnell miteinander und stupsen auf Kommando die Wange an.“

Kniffliges für schlaue Köpfe

Ein anderes Spiel, das hervorragend zum Zeitvertreib geeignet ist und obendrein auch noch die grauen Zellen des Pferdes anregt, ist das Hütchenspiel. „Es fordert Geruchssinn und Aufmerksamkeit und macht den meisten Pferden viel Spaß“, weiß Agnes Trosse. Als Hütchen eignen sich alle standfesten Behälter, unter denen sich Leckerchen verstecken lassen und von denen keine Verletzungsgefahr ausgeht. Kennt das Pferd die Übung noch nicht, wird die Belohnung zunächst vor seinen Augen unter einem der Hütchen versteckt. „Anfangs sind manche Pferde noch sehr vorsichtig. Dann lobe ich jeden Versuch, sich dem Hütchen anzunähern und es zu berühren, ausgiebig.

Hat das Pferd einmal verstanden, dass es das Ding umwerfen muss, um an die Belohnung zu kommen, kann man den Schwierigkeitsgrad erhöhen und mehrere Hütchen aufstellen“, rät Trosse. Geeignet ist diese Übung prinzipiell für alle Pferde, solange sie dabei ruhig bleiben. Die Position des Kopfes beim Schnüffeln und Suchen entspricht der physiologischen Kopf-Hals-Position beim Grasen. Damit ist sie sowohl für die Körperhaltung als auch für die Psyche des Pferdes gut.

Spiel mit der Balance

Körperlich lässt sich ein Pferd während der Zeit der Boxenruhe freilich nicht auslasten. Möglichkeiten, die Muskulatur zu kräftigen und Bänder und Sehnen elastisch zu halten, gibt es dennoch. Eine besonders unkomplizierte Balance- und Geschicklichkeitsübung für die Box ist das Stangentraining. Wer dabei an Springstangen und Cavaletti denkt, ist sprichwörtlich auf dem Holzweg. „Um Verletzungen vorzubeugen, benutzt man hierfür einfach eine Schwimmnudel. Sie kann problemlos auch ins Stroh gelegt werden“, empfiehlt Agnes Trosse.

Als erste Übung kann das Pferd lernen, aus dem ruhigen Stand mit einem Vorderbein über die „Stange“ aus Polyethylenschaum zu treten, dort zu verweilen und wieder zurück hinter die Schwimmnudel zu treten. „Damit mein Pferd versteht, was ich von ihm will, kann ich seinen Kopf sanft am Halfter führen und es so veranlassen, ein Bein zu heben. Möchte ich, dass es das linke Vorderbein hebt, führe ich seinen Kopf sanft nach rechts. Automatisch wird es sein Gewicht auf das rechte Vorderbein verlagern. Meistens heben die Pferde dann das nun weniger belastete linke Bein von selbst. Locke ich mein Pferd dann noch ein Stück zu mir, setzt es das Spielbein vor der Stange ab“, erklärt die Pferdetrainerin. In derselben Art und Weise geht es danach wieder retour.

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Balance-Pads gibt es für spezifische Trainingsziele. © Alexandra Evang Photographie

Diese Übung lässt sich beliebig erweitern und variieren. So kann man das Pferd mit beiden Vorderhufen über die „Stange“ treten oder sich längs über die „Stange“ bewegen lassen, wobei der rechte Vorder- und Hinterhuf auf der rechten Seite der Schwimmnudel bleiben, der linke Vorder- und Hinterhuf links davon.

Balance-Pads sind eine weitere Möglichkeit zur sinnvollen Beschäftigung von Geist und Körper – auch auf beengtem Raum. Die Trainingsbehelfe, die in ihrer Ausführung von weich bis hart und von gerade bis schräg reichen, sehen unspektakulär aus, können im Pferdekörper aber eine große Wirkung erzielen, wie Trosse erklärt: „Durch die veränderte Relation zum Boden werden die Pferde dazu angeregt, ihr Körpergewicht besser zu verteilen und sich zu stabilisieren. Dabei werden die tieferliegende Muskulatur und die faszialen Strukturen schonend gestärkt, und die Pferde lernen, sich zu entspannen.“

So positiv das Training mit den Pads auch ist, gibt es doch auch Einschränkungen. „Pferde mit neurologischen Erkrankungen können Probleme mit Balance-Pads haben. In solchen Fällen lässt man besser die Finger davon“, warnt Tierarzt Dr. Merkt. Meiden sollte man sie zudem in der ersten Zeit, wenn die Boxenruhe aufgrund von Fissuren, Frakturen, Gelenks- oder Sehnenverletzungen verordnet wurde. Um hier keine unnötigen Risiken einzugehen, sollte man sich vor dem Gebrauch der Pads auf jeden Fall mit dem behandelnden Tierarzt besprechen.

Die Zeit danach

Hat das Pferd die Boxenruhe gut überstanden, beginnt der vermutlich anspruchsvollste Teil der Genesung: der schrittweise Weg zurück zur Normalität. In dieser Zeit heißt es vorsichtig zu sein und nichts zu übertreiben, um eine Verschlechterung des Zustandes oder gar eine neue Verletzung zu vermeiden. Agnes Trosse kann ein Lied davon singen. Ihre Bruchpilotin Rapunzel erlitt trotz sorgfältiger Reha und behutsamer Aufbauarbeit einen schmerzlichen Rückfall. Der nachfolgende Klinikaufenthalt samt Boxenruhe war dank der intensiven Arbeit in der vorangegangenen Stehzeit allerdings quasi ein Spaziergang für das eingespielte Team. Inzwischen hat Rapunzel auch die zweite Boxenhaft hinter sich gebracht und steht wieder im Offenstall. Und diesmal bleibt das hoffentlich ganz lange so.

Buchtipp: Kein Frust bei Boxenruhe

Warum verordnet der Tierarzt Boxenruhe? Bei welchen Erkrankungen ist sie sinnvoll? Und wie kann man seinem Pferd dabei die Langeweile vertreiben? Fragen wie diese stellt sich vermutlich jeder Pferdebesitzer, dessen vierbeiniger Partner zum ersten Mal Boxenruhe aufgebrummt bekommt. Nun gibt es erstmals einen Ratgeber, der sich eingehend mit dem Thema beschäftigt. Das Buch klärt auf, bei welchen Krankheiten und Verletzungen Boxenruhe angebracht ist bzw. wann ein Minimum an Bewegung erlaubt ist, es versorgt Pferdehalter mit Ideen für eine abwechslungsreiche Gestaltung der schweren Zeit und gibt Tipps für das anschließende Aufbautraining. Fachtierarzt Dr. Jan Carlos Merkt beleuchtet das Thema zusätzlich aus medizinischer Sicht.

Kein Frust bei Boxenruhe
Kranke Pferde beschäftigen und wieder aufbauen
Agnes Trosse
96 Seiten, 14,95 Euro
erschienen und erhältlich bei Cadmos
www.avbuch-shop.at