Junge, gesunde Pferde haben ihren Spaß im Offenstall. Sie scheuchen einander über die Weide und vom Futter weg, kämpfen – mal ernst, mal spielerisch – und kommen meistens damit klar, wenn man sie tagsüber weitgehend sich selbst überlässt. Aber stecken alte und chronisch kranke Pferden das auch weg? Ist ein Laufstall in diesem Fall überhaupt die richtige Haltungsform? Gefragt, ob man chronisch kranke Pferde in einem Offenstall halten sollte, antwortet Harald Bartl, Betreiber des Siegerstalls des ersten LAG-Pferderevue-Wettbewerbs für artgerechte Pferdehaltung, mit „jein“. Der Grund: Sie alle brauchen individuelle Versorgung. Der Allergiker und das dämpfige Pferd müssen bedampftes Heu fressen, der Hufrehe-Patient und sein Cushing-Kumpel dürfen nicht so oft auf die Weide, beim PSSM-Kandidaten muss zudem das Kraftfutter reduziert werden – und außerdem brauchen sie meist alle miteinander Medikamente. Nicht zu vergessen das Arthrose-Pferd, das auf festem Untergrund geradeaus laufen soll, anstatt im Matschpaddock um die Ecken gejagt zu werden. Bei alten Pferden verhält es sich ähnlich.
Es gibt viele Gründe, warum Pferde mit Handicap im üblichen Offenstall meist ins Hintertreffen geraten und im schlimmsten Fall tatsächlich leiden. Eine Koppel mit Weidehütte, die der Halter morgens und abends inspiziert und auf der die Pferde den Rest der Zeit sich selbst überlassen sind, ist nicht als Haltungsform für Alte und Kranke geeignet. „Wenn man das richtig machen will, ist ein erheblicher finanzieller Aufwand damit verbunden“, weiß Bartl. Genügend Platz, große, befestigte Bereiche, mehrere Futterraufen und Ruheplätze, im besten Fall sogar ein Futterautomat – das sind Voraussetzungen, die auch weniger fitten Pferden ein Leben im Offenstall ermöglichen. Auf keinen Fall dürften die Tiere sich selbst überlassen werden. „Man muss die Gruppendynamik in solchen Fällen immer im Auge behalten“, so Bartl.
Starke und Schwache Pferde in einer Gruppe
Laut Bartl, der in der Nähe von Graz einen mit vier LAG-Sternen ausgezeichneten Laufstall betreibt, ist es wichtig, räumliche Ausweichmöglichkeiten zu haben, mehrere Futterstellen und Schlafplätze, die nicht etwa in einer Sackgasse enden. „Es dauert oft Monate, bis eine Gruppe sich findet und beruhigt. In dieser Zeit müssen die Pferde gut beobachtet werden. Und wenn etwas absolut nicht funktioniert, muss man manchmal auch jemanden bitten, wieder zu gehen“, so Bartl.
Im besten Fall sind die räumlichen Möglichkeiten vorhanden, zwei voneinander getrennt lebende Gruppen zu bilden: eine für junge, gesunde Pferde und eine für alte, kranke, allergische oder wie auch immer beeinträchtigte Tiere – nur bitte nicht lauter unterschiedliche Patienten gleichzeitig, doch dazu später mehr. Bartl bietet seinen Einsteller:innen zwar individuelle Betreuung, Medikamentengabe und gegebenenfalls auch Fütterung an, manchmal muss er bei chronisch kranken Pferden aber auch passen. Einen einzelnen Hufrehe-Patienten zum Beispiel würde er nicht aufnehmen. „Wenn alle auf die Weide rennen, aber einer zurückbleiben muss, geht das nicht“, begründet er dieses Vorgehen. „Dann müssen wenigstens zwei Pferde auf dem befestigten Bereich bleiben.“ Grundsätzlich spricht Bartl immer erst mit der Tierärztin eines kranken oder alten Pferdes mit besonderen Bedürfnissen, bevor er es aufnimmt. Danach entscheidet er, ob er die Versorgung überhaupt leisten kann oder nicht.
Technik, die begeistert
Ein bisschen wehmütig blickt der Laufstall-Experte auf eine Anlage in seiner weiteren Umgebung, die für solche Fälle mit entsprechender Technik bestückt ist – Technik, die nicht nur alten und chronisch kranken Pferden ein Leben in artgerechter Haltung ermöglicht, sondern auch sehr viel Arbeit und damit Zeit spart. Diese Anlage wurde von der Schauer Agrotronic GmbH geplant und ausgestattet. Carola Brandt, Verkaufsleiterin des Pferdebereichs der Firma, weiß aus Erfahrung: „Gerade im Freizeitbereich, wo ein Pferd über viele Jahre enger Partner des Menschen ist, sind viele Leute bereit, auch dann noch in seine Haltung zu investieren, wenn es nicht mehr oder nur noch bedingt reitbar ist.“ Die Nachfrage nach speziellen Allergikerställen oder Haltungsformen für Pferde mit Stoffwechselproblemen ist deshalb hoch.
Schauer baut Bewegungsställe mit verschiedenen Fress-, Tränke- und Aktivitätsbereichen. Das Herzstück ist jedoch ein Selektionsbereich mit individuellen Zutrittsberechtigungen zu bestimmten Bereichen. Auf einem Chip, den das Pferd um das Fesselgelenk trägt, ist festgelegt, wie oft und wie viel Rau- und Kraftfutter es bekommen soll und ob es auf die Weide gehen darf. „Dadurch werden die Pferde bedarfsgerecht und individuell bestens versorgt und gleichzeitig in Bewegung gehalten“, erklärt Brandt. Praktisch: Baulich und von der Programmierung her ist fast alles machbar. Die Selektionsanlage entscheidet dann je nach Pferd, ob es beispielsweise durch das rechte Schwenktor auf die Koppel weitergeleitet wird oder durch das linke in den Fressbereich mit dem bedampften Heu. Je nachdem, welche Pferde ein Stallbetreiber als Kundschaft haben wird, wird der Stall also von Anfang an entsprechend konzipiert.
Nach demselben System geht auch die deutsche Firma HIT-Aktivstall vor, die ebenfalls zahlreiche solche Anlagen in Österreich konzipiert und gebaut hat. Die Futterautomaten der meisten Hersteller funktionieren nach dem gleichen Prinzip: In der Regel läuft die Heufütterung über Portionsraufen, an denen das einzelne Pferd erkannt und sein Futter individuell dosiert wird.
Sportpferde im Offenstall
Über die Vorteile einer artgerechten Pferdehaltung herrscht heute weitgehend Einigkeit - mit einer Ausnahme: Sportpferde, zumal solche der gehobenen Leistungsklasse, werden nach wie vor gerne in Einzelboxen gehalten. Dabei ist längst nachgewiesen, dass auch Sportpferde von artgerechter Haltung profitieren. Mehr lesen ...
Am Kraftfutterautomat kann die Besitzerin verschiedene Futterarten auswählen und dem Pferd so ein Menü zusammenstellen. Jedes Mal, wenn das Tier sich anstellt, verrät sein Chip, ob es überhaupt schon wieder fressberechtigt ist und wenn ja, wie viel Gramm von welchem Futter es bekommen soll. Der Automat rückt die entsprechende Portion dann heraus. Er wird in der Regel so programmiert, dass das Pferd sich eine gewisse Menge Futter, beispielsweise 150 Gramm, ansparen muss, bevor es wieder fressberechtigt ist. Dann fährt, je nach Anlage, entweder eine Absperrung hinter dem Pferd herunter, die verhindert, dass Ranghöhere sich in den Futterstand drängen, oder es schließt sich eine Tür. So kann es in aller Ruhe fressen. Erst wenn es anschließend beim Verlassen des Standes einen weiteren Mechanismus betätigt, fährt die Absperrung wieder hoch bzw. die Tür öffnet sich wieder, und ein neues Pferd kann hinein. Klar: Weder die Errichtung noch die Einstellgebühren einer solchen Anlage sind billig. Aber das Management von Pferden mit besonderen Bedürfnissen wird dadurch enorm erleichtert.
Bauliche Möglichkeiten
Ariane Kohls, bei der Firma HIT-Aktivstall für Vertrieb und Öffentlichkeitsarbeit zuständig, ist davon überzeugt, dass – bis auf wenige Ausnahmen – die meisten Pferde im Laufstall gehalten werden können, auch alte und chronisch kranke. „Ein gut durchdachtes System kann auch den Bedürfnissen dieser Pferde gerecht werden, die Verletzungsgefahr ist hier ohnehin generell sehr gering, da scharfe Kanten und andere Verletzungsquellen prinzipiell vermieden werden“, erklärt sie.
Grundsätzlich sollte es in einem Offenstall keine Sackgassen, spitzen Winkel und rutschige Böden geben. Werden kranke oder alte Pferde mit untergebracht, so sind die Ansprüche an die bauliche Gestaltung des Stalles noch höher. „Wir denken schon bei der Planung eines Stalles daran, dass die Pferde irgendwann einmal alt werden und bauen lange Laufwege und einige Abkürzungen für alte Pferde ein, damit diese den jungen aus dem Weg gehen können“, so Kohls. Wichtig sind auch Ruhebereiche mit Raumteilern, die den schwachen Pferden die Möglichkeit geben, sich zurückzuziehen. Sinnvoll bei der Planung: nicht nur eine große Liegefläche bereitstellen, sondern mehrere kleine. Solche „VIP“- oder Komfortbereiche können natürlich auch durch eine Selektion zugänglich gemacht werden. „Zum Beispiel werden dann die alten Tiere auf einen Auslauf mit Weidehütte und eigener Futterraufe geleitet, während die Frechdachse draußen bleiben müssen“, erklärt Carola Brandt.
Auch Vordächer und abwechslungsreich gestaltete Wege entzerren die Gruppe und bieten die Möglichkeit, sich an anderen Stellen aufzuhalten als die Herdenchefs. Gefährlich können Laufstallsysteme werden, die komplett als Einbahnstraße gebaut sind. Auf diese Art sollen sich die Pferde noch mehr bewegen. Schwache Tiere geraten aber in Stress, wenn die schlecht gelaunten Chefs ihnen den Weg versperren und ein Ausweichen in die andere Richtung nicht möglich ist.
Auch die Variante, im Laufbereich Holzstämme in den Weg zu legen, um auf einer großen Fläche Bewegungsanreize zu schaffen, funktioniert dann nur bedingt. Denn diese dürfen niemals so platziert werden, dass ein krankes Tier im Notfall darüber springen muss. Wer Arthrose- und Hufrehe-Patienten oder Pferde mit anderen Bein- und Huferkrankungen beherbergt, muss den Auslauf so planen, dass auch lahme Pferde immer eine Fluchtmöglichkeit ohne Hindernisse finden.
Sachgemäß gebaute Futterstände ermöglichen rangniederen Pferden auch dann den Zugang zum Raufutter, wenn es keine Möglichkeit gibt, eine individuelle, computergesteuerte Fütterung anzubieten. Durch die Trennwand zwischen den einzelnen Ständen haben Pferde hier – mehr noch als bei offenen, runden Futterraufen – die Möglichkeit, in Ruhe am Heu zu knabbern. Ebenso sollten genügend Tränken und Salzlecksteine weit genug von einander entfernt vorhanden sein, damit die Tiere einander nicht ständig in die Quere kommen.
Heu wird im Offenstall häufig ad libitum angeboten. Damit stoffwechselkranke Pferde dann nicht über die Maßen viel Heu fressen, können beispielsweise zusätzliche Netze oder Gitter über die Raufen gezogen werden. Außerdem sollte der Untergrund rund um diese ad-libitum-Bereiche nicht allzu komfortabel gestaltet sein. „Am besten pflastert man den Boden, denn das macht den Pferden das Strahlen unangenehm und verhindert, dass sie allzu lange dort stehen bleiben“, erklärt Brandt.
Brauchen einige Pferde ein anderes Raufutter, beispielsweise bedampftes oder entstaubtes Heu, so ist es sinnvoll, diese entweder über computergesteuerte Selektierung zu füttern oder aber eine eigene Gruppe zu eröffnen. „Im Prinzip ist im Offenstall alles möglich, aber ich kann nicht lauter kranke Pferde mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen aufnehmen“, stellt Harald Bartl klar. Jede Gruppe müsse möglichst passend zusammengestellt sein. So haben beispielsweise PSSM-Pferde ganz andere Bedürfnisse als abgemagerte alte Tiere. Dämpfige Pferde brauchen anderes Grundfutter als Hufrehe-Patienten, Pferde mit Sehnenschaden einen homogeneren Untergrund als solche mit Zwanghufen. Im besten Fall entscheidet man sich als Stallbetreiber:in von Anfang an für einen bestimmten Patiententypus, den man betreuen will.
Individuelle Betreuung
Einen Großteil der individuellen Bedürfnisse von alten und kranken Pferden im Offenstall können technische und bauliche Maßnahmen erfüllen. Natürlich hat aber auch jeder Computer seine Grenzen. Wie heiß der Sommertag heute wird, wie hoch die Fruktankonzentration auf der Weide ist, wie viele Mückenstiche der Ekzemer aushalten kann, wie hoch der Stresspegel des abgemagerten Pferde-Opas wirklich ist – diese und zahlreiche weitere Fragen kann nur eine sachverständige Aufsichtsperson beantworten und entsprechende Entscheidungen fällen.
Auch das Verabreichen von Medikamenten muss in der Regel weiterhin persönlich und individuell vorgenommen werden. In den meisten Ställen haben die Betreiber bestimmte Routinen etabliert, um den Gesundheitszustand ihrer Pferdegemeinschaft zu überprüfen. Auf dem Haldenhof in Aystetten (Bayern) zum Beispiel gibt es ein für alle Pferdebesitzer:innen einsehbares Stalltagebuch. Dort tragen Stallbetreiber:innen und Angestellte jeden Tag ein, was sie an den Pferden beobachtet haben – und zwar zu Arbeitsbeginn, zu Arbeitsende und nachts vor dem Abschließen der Ställe. Dabei schauen sie jedes einzelne der 40 bis 50 Pensionspferde von oben bis unten genau an.
Die Pferde leben in zwei Gruppen – junge und alte Pferde, die unterschiedlich gefüttert werden und zu anderen Zeiten auf die Koppel kommen. „Wir halten das Datum, die Zeit des Koppelgangs und die Ergebnisse der Pferdekontrolle fest“, beschreibt Volker Willenberg, der die Anlage gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin betreibt, „daneben gibt es Platz für weitere Bemerkungen.“ Hier kann zum Beispiel die Verabreichung einer Wurmkur, ein auffälliges Verhalten oder eine kleine Verletzung vermerkt werden. Jeder Mitarbeiter bestätigt seine Eintragungen mit seiner Unterschrift.
Pferde frühzeitig umgewöhnen
Fazit: Bei sorgfältiger Planung und entsprechenden baulichen und/oder technischen Maßnahmen können auch chronisch kranke und alte Pferde im Offenstall beherbergt werden – am besten in einer eigenen, möglichst homogenen Gruppe. Unsere Expert:innen waren sich jedoch einig: Tiere, die 25 Jahre lang in einer Box standen, sollten am Ende ihres Lebens nicht mehr umgewöhnt werden. Allein der Stress, der durch die plötzliche und dauerhafte Konfrontation mit Artgenossen entsteht, belastet das ohnehin nicht mehr fitte Pferd zu sehr. Dazu kommt, dass Pferde nach jahrelanger Boxenhaltung häufig kein natürliches Herdentierverhalten mehr an den Tag legen. Harald Bartl erinnert sich an ein Pferd, das er nach drei Stunden im strömenden Regen bei Blitz und Donner von der Weide holen musste, weil es nicht verinnerlicht hatte, dass eine „Flucht“ in den Stall überhaupt möglich ist. In seiner Zeit als Boxenpferd hatte es gelernt: „Auf einer Weide ist man immer ausgesperrt. Nur der Mensch kann mich zurück in den Stall bringen.“